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Dunkelziffer

Dunkelziffer

Titel: Dunkelziffer
Autoren: Arne Dahl
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Arne Dahl
    Dunkelziffer
    Kriminalroman
    Aus dem Schwedischen von Wolf gang Butt
    Piper München Zürich
    Die Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel »Mörkertal« im Albert Bonniers Förlag, Stockholm.
    1
    Schon als er das Skelett zum ersten Mal sah, wusste er, dass etwas Besonderes daran war.
    Es war an einem Freitag gewesen, unmittelbar vor Beginn des Wochenendes. Er war allein in der Grube, die Kollegen waren schon hinausgeklettert und unterhielten sich über ihre lichtscheuen Aktivitäten an den freien Tagen. Unter dem Zelttuch über ihm baumelten ihre Beine, als der letzte Spatenstich verklang - es hätte auch der letzte Spatenstich dieser Woche sein sollen.
    Das war am Freitag gewesen. Jetzt war jetzt. Und das war etwas ganz anderes.
    Fast ein ganzes Wochenende lag dazwischen.
    Ein tristes Wochenende.
    Ein wahnsinniges Wochenende.
    Ein unnötiges Wochenende.
    Aber jetzt war jetzt.
    Er lenkte den Firmenwagen auf die Stora Nygata, die einen feinen Schnitt durch Gamla Stan legte und den Blick auf die Reiterstatue Karls XIV. Johan bei Slussen freigab. Sie ruhte im fast horizontal erscheinenden Sonnenlicht, als ob die Sonne den großen Zeh vorsichtig in den Mälaren steckte und überlegte, ob sie kurz eintauchen sollte.
    Aber das war eine Illusion. Obwohl es Abend wurde, stand die Sonne hoch am Himmel. Dass Stockholm so seltsam verzaubert aussah, beruhte vermutlich auf der doppelten Spiegelung der Sonne in Salz- und Süßwasser, im Saltsjön und im Mälaren.
    Er konnte sich nicht freimachen von dem Gefühl, dass das Licht bei Slussen etwas sehr Besonderes war, hier, wo der See ins Meer überging. Gottes eigener Spiegeltrick.
    Er riss sich zusammen und richtete den Blick auf Stora Nygata.
    Wer läuft an einem frühen Abend mitten im Juni in Gamla Stan herum? Vor allem Japaner, dachte er mit einem schiefen Lächeln. Vielleicht auch mal ein Amerikaner, ein paar Deutsche oder Holländer. Vielleicht eine Familie aus Smäland, die sich verlaufen hat. Kaum jemand aus Stockholm.
    Kaum irgendwelche Zeugen, die sich noch in der Stadt aufhielten.
    Aber er hatte jetzt anderes vor, als an Zeugen zu denken.
    Der Firmenwagen glitt langsam zwischen die uralten Hausfassaden; sie schienen sich um ihn zu schließen, einen Pfeil zu bilden, der genau auf ihn zeigte, ihn bezeichnete. Es war ein Gefühl, als ob ganz Stockholm ihn anstarrte.
    Aber nach ein paar Sekunden tauchte in der Ferne das Zelttuch auf, wie eine verirrte Sanddüne. Es sah wohltuend unberührt aus. Eine Luftspiegelung.
    Nein, keine Luftspiegelung. Eine Oase. Eine Zufahrt in eine bessere Welt.
    In ein besseres Leben.
    Es gibt eine detaillierte Anweisung für Handwerker, die auf archäologische Funde stoßen. Die Richtlinie des Archäologischen Reichsamtes, Ausgrabungen in Gamla Stan betreffend. Der Boden ist ein Minenfeld der Geschichte. Man kann keinen Spatenstich tun, ohne auf das verborgene Vergangene zu stoßen.
    Unter jedem Schritt, den man auf der alten Stadtinsel macht, liegen Welten. Untere Welten, überlebte Welten, unbekannte Welten. Welten, die die jetzige Welt verändern können.
    Dunkle Welten.
    »Leute, ihr wisst ja, jeder kleine Fund fügt der Geschichte Stockholms ein Puzzlestück hinzu.« Er sah den aufgeblasenen Allhem vor sich, diesen Trottel, wie er seine Nase in das Zelt schob mit dieser pseudokollegialen Ermahnung, die er schon Dutzende Male gehört hatte. Er grub ja nicht das erste Mal in Gamla Stan.
    Er war auch nicht zum ersten Mal auf ein Fundstück gestoßen. Bei einer Ausgrabung am Drakens gränd hatte er vor ein paar Jahren ein Silberservice aus dem frühen achtzehnten Jahrhundert freigelegt, und vor wenigen Monaten erst hatte er einen kompletten mittelalterlichen Frauenschädel aus einem Loch in der Köpmangata geholt.
    Der aufgeblasene Allhem war natürlich aufgetaucht und hatte etwas von Totengräbern bei Hamlet getönt.
    Jetzt würde er wirklich was zu tönen haben, dachte er, während er den Firmenwagen die Stora Nygata entlanggleiten ließ.
    Es kam vor, dass Handwerker auf die Anweisung pfiffen und ein kostbares Gefäß oder einen schwarz gewordenen Ellenbogenknochen etwas tiefer in den Lehm traten und pfeifend weiterarbeiteten, als wäre nichts geschehen. Um die ständigen Unterbrechungen und zeitraubenden Besuche weltferner Archäologen zu vermeiden, deren ganzes Leben sich in einem anderen Jahrhundert abspielte.
    Schließlich war ja nichts geschehen.
    Er hasste das Wort »Leute«. Es war nichts weiter als eine modernere Art,
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