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Du findest mich am Ende der Welt

Du findest mich am Ende der Welt

Titel: Du findest mich am Ende der Welt
Autoren: Nicolas Barreau
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– das war ich – »und weißt du, was ich
jetzt mache?«
    Ihre Frage hing in der Luft wie eine Bombendrohung. Hilflos lauschte
ich in die schreckliche Stille, die plötzlich entstanden war.
    Â»Ich nehme jetzt diese schwarze Farbe hier … und übermale alle meine
Bilder!«
    Â»Nein! Warte!« Ich gestikulierte
zu Charlotte hinüber, daß es ein Notfall und ich gleich wieder bei ihr wäre,
und zog seufzend die Tür des Schlafzimmers hinter mir zu.
    Fast eine Stunde dauerte es, bis ich die rasende Soleil wieder
einigermaßen beruhigt hatte. Es war ja, so erfuhr ich, während ich unruhig im
Flur auf und ab lief und die Holzbohlen unter meinen Füßen knarrten, nicht nur
der künstlerische Selbstzweifel, wie ihn jeder mal erlebt. Soleil Chabon war
unglücklich verliebt, in wen, könne sie mir nicht sagen, unter keinen
Umständen. Es sei alles hoffnungslos. Der Liebesschmerz jedenfalls nähme ihr
jegliche Inspiration, sie sei Expressionistin und die Welt nunmehr ein
schwarzes Grab.
    Irgendwann hatte sie sich müde geredet. Als ihre Schluchzer leiser
wurden, schickte ich sie mit sanfter Stimme zu Bett. Mit dem Versprechen, daß
alles gut würde und daß ich immer für sie da wäre.
    Es war kurz nach vier, als ich mit tauben Füßen wieder ins
Schlafzimmer zurückschlich. Mein nächtlicher Besuch lag quer über dem Bett und
schlummerte friedlich wie Dornröschen. Vorsichtig schob ich die leise
schnarchende Charlotte ein Stückchen zur Seite. »Schlafen«, murmelte sie,
umklammerte ihr Kopfkissen und rollte sich zusammen wie ein Igel.
    Vom Stein von Rosette war keine Rede mehr. Ich löschte das
Licht, und wenige Minuten später fiel auch ich in einen traumlosen Schlaf.
    Die Kopfschmerztabletten begannen zu wirken. Ich stürzte noch
einen Espresso hinunter, und als ich mit Cézanne an diesem denkwürdigen
Donnerstagmorgen die Treppen hinunterlief, ging es mir eigentlich schon wieder
ganz gut.
    Es
gibt Menschen, die behaupten, daß sich die grundstürzenden Veränderungen im
Leben auf irgendeine Weise ankündigen. Daß es immer Zeichen dafür gibt, die man
nur sehen muß.
    Â»Ich hatte schon den ganzen Morgen so ein komisches Gefühl«, sagen
sie, nachdem etwas Einschneidendes geschehen ist. Oder: »Als das Bild plötzlich
von der Wand fiel, wußte ich, daß etwas passieren würde.«
    Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß mir diese geheimnisvollen
esoterischen Antennen offenbar fehlten. Natürlich würde ich im nachhinein gerne
behaupten, daß der Tag, der mein ganzes Leben so völlig auf den Kopf stellte,
irgendwie besonders war. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben – ich ahnte
nichts.
    Ich hatte keine Vorahnung, als ich den Briefkasten unten im
Eingangsflur aufschloß. Ja, nicht einmal, als ich unter einigen Rechnungen den
blaßblauen Umschlag entdeckte und hervorzog, regte sich mein siebter Sinn.
    Auf dem Kuvert stand in einer schön geschwungenen Handschrift »An
den Duc«. Ich weiß noch genau, daß ich amüsiert lächelte, weil ich annahm, daß
die entschwundene Charlotte mir auf diese Weise einen kleinen Abschiedsbrief
zukommen ließ. Nicht einen Augenblick machte ich mir darüber Gedanken, daß auch
Damen der Gesellschaft wohl kaum stets und überall Büttenbriefpapier in ihren
Handtaschen mit sich herumtragen.
    Ich wollte gerade den Umschlag
aufreißen, als Madame Vernier mit einer Einkaufstasche in den Hausflur trat. » Bonjour, Monsieur
Champollion, hallo, Cézanne«, begrüßte sie uns freudig. »Na, Sie sehen aber
aus, als hätten Sie nicht viel geschlafen – ist wohl spät geworden gestern?«
    Madame Vernier ist meine
Nachbarin und wohnt allein in einer riesengroßen Wohnung im Parterre. Seit drei
Jahren reich geschieden, lebt diese Dame nahezu anachronistisch entspannt im
Hier und Jetzt. Sie ist auf der Suche nach Ehemann Nummer Zwei. Das hat sie mir
jedenfalls gesagt. Aber auch das hat natürlich keine Eile.
    Das Gute an Madame Vernier ist,
daß sie unglaublich viel Zeit hat, sehr tierlieb ist und sich um Cézanne
kümmert, wann immer ich unterwegs bin. Das Schlechte an ihr ist, daß sie
unglaublich viel Zeit hat und einen in stundenlange Gespräche verwickelt, wenn
man es eilig hat.
    Auch an diesem Morgen stand sie vor mir wie frischgefallener Schnee.
Ich blickte nervös in ihr freundliches,
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