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Du findest mich am Ende der Welt

Du findest mich am Ende der Welt

Titel: Du findest mich am Ende der Welt
Autoren: Nicolas Barreau
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Kinderbild von mir hängen, das auf dem marmornen
Kaminsims steht, und legte einen anmutigen Schleier über das Gesicht des
schlaksigen, blonden Jungen mit den blauen Augen, der stolz sein erstes Fahrrad
am Lenker hielt und in die Kamera lachte.
    Charlotte ließ sich in ihren zarten maronenfarbenen Dessous, die der
Politikergatte offenbar nicht genügend würdigte, auf mein Bett fallen und
streckte die Arme nach mir aus. » Viens, mon petit
Champollion , komm her zu mir«, säuselte sie, es klang wie »Champignon«,
aber auch dagegen hatte ich nichts einzuwenden. »Komm her, mein Süßer, ich
zeige dir jetzt den Stein von Rosette …« Sie räkelte sich auf der Bettdecke,
strich über ihren schlanken Körper und schenkte mir ein mutwilliges Lächeln.
    Wie hätte ich da widerstehen können? Ich bin auch nur ein Mann.
    Wenn ich dennoch widerstand, so geschah dies unfreiwilligerweise,
denn in dem Moment, als ich mich über sie beugte, um mit sanfter Hand mein archäologisches
Abenteuer zu beginnen, klingelte mein Handy.
    Ich versuchte, es zu überhören, flüsterte meiner schönen Nofretete
kleine Schmeicheleien ins Ohr, küßte ihren Hals, aber wer auch immer mich da
mitten in der Nacht zu erreichen versuchte, er ließ nicht locker, und das
Klingeln wurde immer drängender.
    Plötzlich hatte ich beängstigende Visionen von Unfalltoten und
Schlaganfallopfern.
    Â»Entschuldige mich einen Moment.« Seufzend löste ich mich von der
leise protestierenden Charlotte, ging zu dem weinroten Sessel hinüber, auf den
ich achtlos Jacke und Hose geworfen hatte, und kramte das Handy aus der Tasche.
    Â» Oui, hallo? « stieß ich leise hervor.
    Eine tränenerstickte Stimme antwortete.
    Â»Jean-Luc? Jean-Luc, bist du es? Bin ich froh, daß ich dich
erreiche. Warum bist du nicht drangegangen? Oh, mein Gott, Jean-Luc!« Die
Stimme am anderen Ende der Leitung schluchzte auf.
    Oh, mein Gott, dachte auch ich. Bitte nicht jetzt! Es war Soleil.
Ich verfluchte mich einen Moment dafür, daß ich nicht auf mein Display geschaut
hatte, aber ihr Schluchzen klang dramatischer als sonst.
    Â»Soleil, Liebes, beruhige dich doch. Was ist denn los?« sagte ich
vorsichtig. Vielleicht war ja wirklich etwas passiert, und es war nicht nur
eine dieser verzweifelten künstlerischen Schaffenskrisen, die immer dann
auftraten, wenn wir den Termin für eine Ausstellung festgelegt hatten.
    Â»Ich kann nicht mehr«, heulte
Soleil. »Ich male nur noch Scheiße. Vergiß die Ausstellung, vergiß alles! Ich
hasse meine Mittelmäßigkeit, dieses ganze mediokre Zeug hier …« Es klang, als
trete jemand gegen einen Farbeimer, und ich kniff die Augen zusammen, als das
Scheppern mein Ohr erreichte. Ich konnte die schlanke hochgewachsene Gestalt
direkt vor mir sehen, mit den großen dunklen Augen und den schwarzglänzenden
Locken, die wie dunkle Flammen um ihr schönes milchkaffeebraunes Gesicht
züngelten und Soleil, einziger Tochter einer schwedischen Mutter und eines
karibischen Vaters, in der Tat etwas von einer schwarzen Sonne gaben.
    Â»Soleil«, sagte ich mit der ganzen zen-buddhistischen
Beschwörungskraft, derer ich fähig war, und spähte unruhig zum Bett hinüber, wo
Charlotte sich interessiert aufgesetzt hatte. »Soleil, das ist doch alles
Unsinn. Ich sage dir, du bist gut. Du bist … du bist großartig, wirklich. Du
bist einzigartig. Ich glaube an dich. Hör mal …«, ich senkte meine Stimme ein
wenig, »es ist jetzt gerade wirklich schlecht. Warum legst du dich nicht
einfach ins Bett, und morgen komme ich vorbei, und …«
    Â»Soleil? Wer ist Soleil?« lallte Charlotte lautstark aus dem Schlafzimmer.
    Ich hörte, wie Soleil am anderen Ende der Leitung die Luft einzog.
    Â»Ist da eine Frau bei dir?« fragte sie mißtrauisch.
    Â»Soleil, bitte, es ist mitten in der Nacht, hast du mal auf die Uhr
geschaut?« entgegnete ich beschwörend, ohne auf ihre Frage einzugehen. Ich
winkte Charlotte beruhigend zu und preßte den Hörer dicht an meine Lippen. »Laß
uns das morgen in Ruhe bereden, ja?«
    Â»Warum flüsterst du so?« schrie Soleil aufgebracht, dann fing sie
wieder an zu schluchzen. »Klar hast du eine Frau bei dir, die Weiber sind dir
ja immer wichtiger. Alle sind wichtiger als ich. Ich bin ein Nichts, nicht mal
mein Agent interessiert sich für mich«
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