Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Du findest mich am Ende der Welt

Du findest mich am Ende der Welt

Titel: Du findest mich am Ende der Welt
Autoren: Nicolas Barreau
Vom Netzwerk:
über ihre Brille hinweg einen strengen
Blick zu und ermahnte mich, nicht so unkonzentriert zu sein. Ich lächelte nur.
Was wußte sie schon?
    Einige Wochen darauf sah ich Lucille mit zwei Mädchen, mit
denen sie sich inzwischen angefreundet hatte, nachmittags vor der Buchhandlung
stehen. Sie lachten und schwenkten kleine weiße Plastiktüten durch die Sommerluft.
    Dann,
welch wunderbarer Zufall, verabschiedeten sie sich voneinander, und Lucille
blieb noch einen Moment vor der Schaufensterscheibe stehen und schaute in die
Auslage. Ich steckte die Hände in die Hosentaschen und schlenderte zu ihr
hinüber.
    Â» Salut , Lucille«, sagte ich so normal wie
möglich, und sie drehte sich überrascht um.
    Â»Oh, Jean-Luc, du bist es«, erwiderte sie. »Was machst denn du
hier?«
    Â»Och …« Ich scharrte ein bißchen mit meinem rechten Turnschuh über
das Pflaster. »Nichts Besonderes. Ich häng hier nur so rum.«
    Ich starrte auf ihre kleine Plastiktüte und überlegte fieberhaft,
was ich als nächstes sagen konnte. »Hast du ein Buch gekauft, für die Ferien?«
    Sie schüttelte den Kopf, und ihre langen schimmernden Haare flogen
auf wie feingesponnene Seide. »Nein, Briefpapier.«
    Â»Aha.« Meine Hände verkrampften sich in den Hosentaschen. »Schreibst
du gern … äh … Briefe?«
    Sie zuckte die Achseln. »Ja, schon. Ich hab eine Freundin, die wohnt
in Paris«, sagte sie mit einem Anflug von Stolz.
    Â»Oh. Toll!« stotterte ich und verzog anerkennend meine Mundwinkel.
Paris war für einen kleinen Jungen aus der Provinz so weit weg wie der Mond.
Und daß ich später einmal dort leben und als nicht ganz unerfolgreicher
Galerist recht weltmännisch durch die Straßen von Saint-Germain spazieren
würde, wußte ich damals natürlich noch nicht.
    Lucille sah mich schräg von unten an, und ihre blauen Augen
flackerten. »Aber noch lieber bekomme ich Briefe«, sagte sie. Es klang wie eine
Aufforderung.
    Das war wohl der Moment, der meinen Untergang besiegelte. Ich sah in
Lucilles lächelnde Augen, und für ein paar Sekunden hörte ich nichts mehr von
dem, was sie plapperte, denn in meinem Hirn nahm eine großartige Idee
allmählich Formen an.
    Ich würde einen Brief schreiben. Einen Liebesbrief, wie ihn die Welt
noch nicht gesehen hatte. An Lucille, die Schönste von allen!
    Â»Jean-Luc? He, Jean-Luc!« Sie sah mich vorwurfsvoll an und zog einen
Schmollmund. »Du hörst mir ja gar nicht zu.«
    Ich entschuldigte mich und fragte, ob sie mit mir ein Eis essen
würde. Warum nicht, sagte sie, und schon saßen wir in dem kleinen Eiscafé an
der Straße. Lucille studierte aufmerksam die nicht gerade umfangreiche
Plastikkarte, blätterte vor und zurück und suchte sich schließlich einen »Coup
mystère« aus.
    Seltsam, wie genau man sich später an diese völlig belanglosen
Details erinnert. Warum merkt sich das Gedächtnis solche unbedeutenden Dinge?
Oder haben sie am Ende eine Bedeutung, die sich uns nur nicht sofort
erschließt? Was ich für ein Eis bestellte, weiß ich jedenfalls nicht mehr.
    Der »Coup mystère«, eigentlich ein kleiner spitz zulaufender
Plastikbecher mit Vanille- und Nußeis, den man auch direkt aus der großen
Eistruhe nehmen konnte, wurde im Café ganz vornehm in einer Silberschale
serviert.
    Das ganze klang allerdings verheißungsvoller, als es war – aber was
hätte nicht verheißungsvoll geklungen an jenem Sommernachmittag, als die Welt
nach Rosmarin und Heliotrop duftete, Lucille in ihrem weißen Kleid vor mir saß,
hingebungsvoll mit dem langen Löffel in ihrem Eis wühlte und entzückt
aufschrie, als sie erst auf die unheimlich mysteriöse Meringue-Schicht stieß
und dann auf die rote Kaugummikugel, die sich ganz unten am Boden versteckte.
    Sie versuchte die Kaugummikugel herauszuangeln, und wir mußten
unheimlich lachen, weil das glitschige rote Ding immer wieder vom Löffel
kullerte, bis Lucille schließlich entschlossen mit den Fingern in den Becher
griff und sich die Kugel mit einem triumphierenden »So!« in den Mund steckte.
    Ich sah ihr fasziniert zu. Das sei das beste Eis seit langem,
erklärte Lucille ausgelassen und ließ eine riesige Kaugummiblase vor ihrem Mund
zerplatzen.
    Und als ich sie anschließend noch bis nach Hause begleitete und
wir nebeneinander über die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher