Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Du findest mich am Ende der Welt

Du findest mich am Ende der Welt

Titel: Du findest mich am Ende der Welt
Autoren: Nicolas Barreau
Vom Netzwerk:
unbefestigten, staubigen Wege von Les Mimosas her
liefen, kam es mir fast so vor, als gehöre sie schon mir.
    Am letzten Schultag, bevor die endlos langen Sommerferien
begannen, steckte ich Lucille mit klopfendem Herzen meinen Brief in die
Schultasche. Ich hatte ihn mit der ganzen unschuldigen Inbrunst eines Jungen geschrieben,
der sich für erwachsen hielt und doch noch weit davon entfernt war. Ich hatte
nach poetischen Vergleichen gesucht, um meine Liebste zu beschreiben, ich hatte
mit großem Pathos meine Gefühle aufgezeichnet, alle Ewigkeitswörter verwendet,
die es gab, Lucille meiner unsterblichen Liebe versichert, kühne Zukunftsvisionen
entworfen, und einen ganz konkreten Vorschlag hatte ich auch nicht vergessen:
Ich bat Lucille, in den ersten Ferientagen mit mir auf die Îles d’Hyères zu fahren,
ein romantischer Ausflug mit dem Boot auf die Insel Porquerolles, von dem ich
mir einiges versprach. Und dort, an einem menschenleeren Strand, würde ich ihr
am Abend den kleinen silbernen Ring schenken, den ich noch am Tag zuvor von meinem
Taschengeld, das ich meiner gutherzigen Mutter vorzeitig abschwatzte, gekauft
hatte. Und dann – endlich! – würde es zu dem von mir so heiß ersehnten Kuß
kommen, der unsere junge, unsterbliche Liebe für immer besiegeln würde. Für immer
und ewig.
    Â»Und
so lege ich mein ganzes brennendes Herz in deine Hände. Ich liebe dich,
Lucille. Bitte antworte mir schnell!«
    Ich hatte Stunden überlegt, wie ich den Brief beenden sollte. Den
letzten Satz hatte ich erst wieder herausgestrichen, doch dann überwog meine
Ungeduld. Nein, ich wollte keine Sekunde länger warten als nötig.
    Wenn ich heute an all dies denke, muß ich lachen. Doch so gerne ich
mich auch über den liebesenthusiastischen Jungen von damals erheben möchte, es
bleibt ein kleiner Stich des Bedauerns, ich gebe es zu.
    Weil ich heute anders bin, so wie wir alle anders werden.
    An diesem heißen Sommertag jedoch, der so hoffnungsvoll begann
und so tragisch endete, betete ich darum, daß Lucille meine übergroßen Gefühle
erwidern würde: Mein Beten war allerdings rein rhetorischer Natur. Im Grunde
meines Herzens war ich mir meiner Sache absolut sicher. Immerhin war ich der
einzige Junge aus der Klasse, mit dem Lucille einen »Coup mystère« gegessen
hatte.
    Ich weiß nicht, warum ich mich an diesem Nachmittag so
unbedingt in der Nähe von Lucilles Haus herumtreiben mußte. Vielleicht wäre
alles anders gekommen, wenn ich nicht so voller Ungeduld und Sehnsucht meine
Schritte in Richtung Les Mimosas gelenkt hätte, wo Lucille wohnte.
    Ich wollte gerade in den kleinen Fußweg einbiegen, an
dessen Seite eine alte Mauer aus Natursteinen entlangführte, die von duftenden
goldgelben Mimosenbüschen nahezu überwuchert war, als ich Lucilles Lachen
hörte. Ich blieb stehen. Im Schutz der Mauer, den Rücken an den rauhen Stein
gelehnt, beugte ich mich etwas vor.
    Und da sah ich sie. Lucille lag bäuchlings auf einer Decke unter
einem Baum, ihre zwei Freundinnen rechts und links neben sich. Alle drei
kicherten ausgelassen, und ich dachte noch mit einer gewissen Nachsicht, daß
Mädchen manchmal ziemlich albern sein können. Doch dann bemerkte ich, daß
Lucille etwas in den Händen hielt. Es war ein Brief. Mein Brief!
    Ich stand regungslos da, verborgen hinter Kaskaden von
Mimosenzweigen, krallte meine Hände in das sonnenwarme Mauerwerk und weigerte
mich, das Bild, das sich auf meiner Netzhaut in allzu grausamer Deutlichkeit
einbrannte, wahrzunehmen.
    Und doch, es war die Wahrheit, und Lucilles helle Stimme, die sich
jetzt wieder erhob, schnitt mir ins Herz wie Glassplitter.
    Â»Und hört euch das mal an: Und so lege ich mein ganzes brennendes
Herz in deine Hände«, las sie mit überzogener Betonung vor. »Ist das nicht zum
Schreien?!«
    Die Mädchen kicherten erneut drauflos, und eine der Freundinnen
kugelte vor Lachen auf der Decke herum, hielt sich den Bauch und rief immer
wieder: »Hilfe, es brennt, es brennt! Feuerwehr, Feuerwehr! Au
secours, au secours! «
    Unfähig, mich zu rühren, starrte ich Lucille an, die gerade mit
leichter Hand und der fröhlichsten Herzlosigkeit dabei war, meine geheimsten
Intimitäten preiszugeben, mich zu verraten, mich zu vernichten.
    Alles in mir brannte, und doch lief ich nicht fort, um mich zu
retten. Eine nahezu selbstzerstörerische Lust am
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher