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0081 - Ich galt als Verräter

0081 - Ich galt als Verräter

Titel: 0081 - Ich galt als Verräter
Autoren: Ich galt als Verräter
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Am Donnerstagabend schloß Caldwell wie jeden Donnerstag Punkt sechs sein Geschäft zu. Das war seit Jahren, seit Jahrzehnten bei ihm so gewesen, und so wollte er es auch in Zukunft halten. Sonst hatte er seinen Laden oft bis neun Uhr abends geöffnet, aber Donnerstagabend brachte es der größte Käuferansturm nicht fertig, ihn länger als bis sechs zum Verkaufen zu bringen.
    Er löschte die Lampen im Laden aus bis auf die automatische Schaufensterbeleuchtung, die mit einer elektrischen Uhr gekoppelt war und um Mitternacht ausgeschaltet wurde, schloß die Verbindungstür zwischen Lager und Verkaufsraum, zog den Schlüssel ab, verschloß ebenfalls die Tür zwischen Lager und Wohnzimmer und zog auch diesen Schlüssel ab.
    Im Wohnzimmer hängte er seinen blütenweißen Verkaufskittel auf den Bügel, zog sich den Rock über seine graue Weste und setzte sich dann ein paar Minuten lang auf den alten Lehnstuhl neben dem altmodischen Schreibtisch.
    Er war jetzt 66 Jahre alt, und den ganzen Tag mußte er auf den Beinen sein. Es ging nicht mehr so wie früher. Zwar zeigte er es nicht, aber abends war er doch jedesmal sehr erschöpft.
    Seit 44 Jahren war Roger Caldwell allein. Vielleicht lag es daran, daß er oft mit sich selbst sprach. Sein Wohnzimmer hätte sonst nie die Stimme eines Menschen vernommen, denn private Besuche bekam er nicht, und alle geschäftlichen Gespräche wurden im Laden erledigt.
    »Wenn ich 70 bin«, murmelte er vor sich hin, »werde ich anfangen, mittags eine Stunde zu ruhen. Dann kann ich es noch bequem zehn Jahre aushalten. Mein Vater ist 86 geworden, meine Mutter 92. No, no, ich beiße noch lange nicht ins Gras. Das könnte diesem Pack so passen in dieser Gegend! Alles Pack! Aber sie kaufen fleißig bei mir, weil ich billiger bin, hihihi! Ja, ja, haltet mich nur für dumm, ich weiß, was ich will!«
    Er rieb sich die mageren Hände und lehnte den Kopf weit in die Lehne zurück. Aah, das tat gut. Die Füße brannten so sehr.
    Als die altmodische Standuhr auf dem Schreibtisch die erste Viertelstunde nach sechs schlug, zuckte er zusammen.
    »Meine Güte«, brabbelte er in seinen schlohweißen Bart. »Nun muß ich aber eilen!«
    Er stand auf und trat an den breiten Eßtisch, auf dem eine verblichene Plüschdecke lag. Vier große Pakete stapelten sich auf dem Tisch. Er packte sie aus, und auf einmal veränderte sich schlagartig sein Gesicht. Aus dem harten, verbitterten Alten wurde schlagartig ein freundlicher, grundgütiger Großvater. Mit fast liebevollen Bewegungen nahm er die Spielsachen aus dem Paket. Drei Kartons enthielten je sieben Puppen. Jede Puppe glich der anderen aufs Haar, selbst in der Kleidung. Im vierten, sehr schweren Paket war ein beachtlich großer Metallbaukasten. In der beigefügten Bauanleitung stand, daß die schwere Holzkassette über 14 000 Einzelteile enthalte. Roger Caldwell betrachtete mit lustig funkelnden Augen die bunte Pracht.
    Er schrieb die Schecks für die Versandhäuser aus, schob sie in Briefumschläge, notierte die Anschriften und klebte die Briefmarken darauf. Dann rief er sich telefonisch ein Taxi und bat den Fahrer, ihm beim Verstauen der Kartons zu helfen. 20 Minuten später saß er im Waisenhaus unter 40 Kindern, die ihm nicht mit dem Mund danken konnten. Aber alles, was sie für Roger Caldwell empfanden, stand in den leuchtenden Augen dieser armen Geschöpfe…
    Wie üblich verließ er um neun Uhr das Heim. Zurück blieben seine Geschenke und vierzig glückliche Kinder, während Caldwell zu Fuß nach Hause ging, da er nun nicht mehr die Last der Spielsachen zu schleppen brauchte.
    Es war ein langer Fußmarsch, aber er scheute nicht davor zurück. Kurz vor halb elf kam er in die 98. Straße. Er tappte, nun doch sehr ermüdet und außerdem hungrig, da er noch kein Abendbrot gegessen hatte, langsam auf dem Bürgersteig dahin und bog in die Toreinfahrt ein, die auf den Hof seines Grundstücks führte. Seit Jahr und Tag verließ Roger Caldwell seine Wohnung nur durch die Hintertür und kehrte stets auch auf diesem Weg in die Wohnung zurück.
    Die ganze Nachbarschaft wußte das. Und selbstverständlich wußte es auch die Borris-Gang. Neun Mann hoch standen sie auf dem Hof herum, lehnten an der Hauswand oder hockten auf den Mülltonnen, als Roger Caldwell den Hinterhof betrat. Neun Lederjackenfiguren und ein alter Mann…
    ***
    Phil und ich hatten uns für den Abend vorgenommen, eine Partie Schach zu spielen. Es wurde nichts daraus.
    Schon als ich die Wohnungstür
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