Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Du findest mich am Ende der Welt

Du findest mich am Ende der Welt

Titel: Du findest mich am Ende der Welt
Autoren: Nicolas Barreau
Vom Netzwerk:
ausgeschlafenes Gesicht.
    Kam es mir nur so vor, oder
schielten ihre Augen schon interessiert nach dem himmelblauen Kuvert in meiner
Hand? Ehe sie mich in eine Unterhaltung über aufregende Nächte oder
handgeschriebene Briefe verstricken konnte, steckte ich meine Post hastig in
die Tasche.
    Â»In der Tat, in der Tat, es war ziemlich spät«, konzedierte ich und
warf einen Blick auf meine Uhr. »Himmel, ich muß los, sonst verpasse ich meinen
Termin! Bonne journée, Madame, bis später!« Ich
hastete zum Eingangsportal, schleifte Cézanne hinter mir her, der noch an
Madame Verniers zierlichen Schuhen schnüffelte, und drückte auf den Türöffner.
    Â»Ihnen auch einen schönen Tag!« rief sie mir nach. »Und sagen Sie
ruhig Bescheid, wenn ich Cézanne mal wieder nehmen soll. Sie wissen ja, ich
habe Zeit.«
    Ich winkte und lief los, Richtung Seine. Cézanne mußte endlich
zu seinem natürlichen Recht kommen.
    Zwanzig Minuten später saß ich in einem Taxi, das mich zur Gare
du Nord bringen sollte. Wir hatten den Pont du Caroussel überquert und fuhren
gerade an der Glaspyramide vorbei, die sich im Glanz der Morgensonne spiegelte,
als mir der Brief von Charlotte wieder einfiel.
    Lächelnd zog ich ihn hervor und öffnete den Umschlag.
Die Dame war ganz schön hartnäckig. Aber charmant. Im Zeitalter von E-Mail und
SMS hatte ein handgeschriebener Brief geradezu etwas rührend Altmodisches, ja
Intimes. Abgesehen von den Urlaubspostkarten meiner Freunde war es lange her,
daß ich eine solch private Post in meinem Briefkasten vorgefunden hatte.
    Ich lehnte mich zurück und überflog die beiden Seiten mit der
feingeschwungenen Schrift. Dann setzte ich mich so abrupt auf, daß der
Taxifahrer neugierig in den Rückspiegel sah. Er bemerkte den Brief in meiner
Hand und zog seine eigenen Schlüsse.
    Â» Tout va bien, Monsieur? Alles in
Ordnung?« fragte er mit dieser ganz speziellen Mischung aus unverblümter
Anteilnahme und nahezu allwissender Menschenkenntnis, die Pariser Taxifahrer
auszeichnet, wenn sie ihren guten Tag haben.
    Ich nickte verwirrt. Ja, alles war in Ordnung. Ich hielt einen
wunderbaren Liebesbrief in meinen ratlosen Händen. Er war an mich gerichtet,
ohne Zweifel. Er schien direkt aus dem achtzehnten Jahrhundert zu kommen. Und
er war zweifellos nicht von Charlotte.
    Was mich jedoch in völlige Verwirrung stürzte, war der Umstand, daß
die Verfasserin ihre Identität nicht preisgab. Ich kannte die Dame gar nicht,
sie aber schien mich recht gut zu kennen.
    Oder hatte ich etwas übersehen?
    Mon cher Monsieur le Duc!
    Was für eine Anrede! Hatte sich da jemand einen Spaß mit
mir erlaubt? Sicher war es bekannt, daß einige Freunde mich »Jean-Duc« nannten,
aber wer schrieb solche Briefe?
    Wort
für Wort, als gälte es eine Geheimsprache 
zu entziffern, tasteten sich meine Augen an den blauen Schriftzeichen
entlang, und ich hatte zum ersten Mal im Leben eine vage Vorstellung davon, wie
mein archäologisch begabter Vorfahre sich gefühlt haben mußte, als er ratlos
vor dem Stein von Rosette hockte.
    Mon cher Monsieur le Duc!
    Ich weiß nicht, wie ich diesen Brief beginnen soll, der – ich
fühle es mit der Gewißheit einer liebenden Frau – der wichtigste Brief meines
Lebens ist.
    Wie kann ich Ihre schönen blauen Augen, die
mir so vieles über Sie verraten haben, denn nur dazu verführen, jedes meiner
Worte aufzunehmen wie eine Kostbarkeit, sie einzulassen in Ihre Gedanken und
Gefühle – in der hochfliegenden Hoffnung, daß diese kleinen Goldpartikel meines
Herzens auch in Ihr Herz fallen mögen, um dort bis auf den Grund zu sinken für
immer.
    Kann ich Sie damit beeindrucken, wenn ich
Ihnen versichere, daß ich vom ersten Augenblick an gespürt habe, daß Sie,
lieber Duc, der Mann sind, nach dem ich immer suchte?
    Wohl kaum. Das werden Sie schon hundertmal
gehört haben, und es ist wahrlich nicht sehr originell. Zudem, da bin ich mir
sicher, wissen Sie aus Ihrer eigenen, nicht eben unerheblichen Erfahrung, wie
oft die ach so gern herbeizitierte »Liebe auf den ersten Blick« bereits
erschreckend kurze Zeit später großer Ernüchterung weicht.
    Und dann – bliebe denn überhaupt noch ein
Liebeswort oder ein leidenschaftlicher Gedanken für mich, der nicht schon
einmal von einer anderen Person geschrieben oder gedacht wurde? Ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher