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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20
Autoren: Émile Zola
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Selbst einem Meister wie Zola »entgleist« manchmal die Feder.
    Selbst nach den Erfahrungen des Dreyfusprozesses hat Zola theoretisch keine andere Lösung für die Menschheitsprobleme anzubieten als die kleinbürgerlich eingefärbte, längst historisch überholte Lehre Fouriers von der evolutionistischen Umgestaltung der Gesellschaft durch die Gründung kleiner sozialistischer Keimzellen, wie der von Luc begründeten neuen Stadt, und den naturalistischen Glauben seiner Lebensphilosophie.
    Aufgewachsen im Schatten der großen naturwissenschaftlichen Entdeckungen des 19. Jahrhunderts, erzogen in der Comteschen Auffassung von der physiologischen Bestimmtheit des menschlichen Wesens, geschult am Biologismus der Taineschen Soziologie, vermochte Zola ein Leben lang nicht den qualitativen Sprung zwischen Natur und Gesellschaft, zwischen Naturreich und Menschenreich, Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte und die Dialektik von Evolution und Revolution theoretisch zu erfassen. Und so merkt er gar nicht, daß sein naturalistischer Evolutionismus, sein zukunftsseliger Glaube an die natürliche, siegende Kraft des Lebens, in Wirklichkeit gerade allen lebensfeindlichen, reaktionären Kräften freies Spiel gibt. Das Ungenügen der geistigen Durchdringung der aufgeworfenen Probleme wird durch das Pathos und die Intensität der Verkündung des zu ihrer Lösung angepriesenen Credos übertönt.
    Es ist kein Zufall, daß gerade bei der positiven Darlegung seiner Lehren immer wieder religiöse Bilder und Vergleiche auftauchen. Die stilistische Anlehnung an die traditionell geheiligten Offenbarungen sollte der eigenen Verkündung die notwendige Weihe geben. Das beginnt mit dem Terminus »Credo«, Glaubensbekenntnis, für Pascals geistiges Vermächtnis, führt über die Vergleiche von Pascal und Clotilde mit den Königspaaren des Alten Testaments bis hin zur biblischen Schlußszene der Mutter mit dem Kind, dem neuen Messias, »den das kommende Jahrhundert erwartete und der die Völker aus ihrem Zweifel und ihrem Leiden erlösen würde …«, und zur Wahl des Titels »Evangelium« für die letzte Tetralogie, deren Helden dementsprechend auch die Namen der vier Evangelisten tragen. Im »Doktor Pascal« wimmelt es geradezu von religiösen Bildern, Vergleichen, Gebetswendungen und Litaneirhythmen. Die Liebesnacht am Ende des Bettelganges klingt aus in Clotildes Liebesflehen von der Inbrunst eines Hohenliedes:
    Nimm mich doch, Meister,
    Nimm meine Jugend,
    Nimm meine Lippen,
    meinen Atem,
    meinen Hals,
    meine Hände,
    meine Füße,
    meinen ganzen Körper,
    Auf daß ich ein lebender Blütenstrauß werde
    und Du mich atmest …
    eine junge köstliche Frucht,
    und Du mich verkostest,
    eine Zärtlichkeit ohne Ende,
    und Du Dich in mir badest.
    Ich bin Dein Werk.
    Solche und ähnliche Stellen und Wendungen riefen nicht ganz zu Unrecht die Kritik der Zeitgenossen hervor, von denen Brunetière schon 1889 bissig bemerkte, daß es wohl nicht der Mühe wert sei, das Christentum zurückzuweisen, wenn man es kaum verändert in seinem Vokabular wieder aufnehme, und in der Gegenwart zeitigten sie den Versuch Guillemins, eines bekannten Zolaspezialisten, aus dem Autor der »RougonMacquart« einen verhinderten Gläubigen, wenn nicht gar einen verhinderten Christen zu machen.
    Ein Körnchen Wahrheit steckt in dieser Feststellung. Zolas voluntaristische Lebensphilosophie – die sehr viel Gemeinsames mit den von Guyau in seinem Buch »Die Nichtreligion der Zukunft« (1887) geäußerten Gedanken hat – hat etwas von dem Aktivismus einer neuen Heilslehre, vor allem wenn man den Zentralbegriff seiner Philosophie, seinen travailBegriff, näher durchleuchtet, der an die Stelle des früheren Zentralbegriffs »Wahrheit« getreten ist. Daß Zola selbst ein Arbeitsfanatiker war, ist hinlänglich bekannt. »Nulla dies sine linea« war die Devise über seinem Schreibtisch. Im Roman vergleicht Pascal seine Arbeit mit einer Balancierstange, die seinem Leben das notwendige Gleichgewicht gibt. Sie hatte sein Leben nicht nur aufgezehrt, sie war auch »sein einziger Motor, sein Wohltäter und sein Trost«. Kein Wunder, daß Zola in der Rede vor den Studenten als Heilmittel gegen alle Übel und Verführungen der Zeit die Arbeit empfiehlt. Statt Wunderglauben – Glauben an die Kraft der Arbeit.
    Unter Arbeit versteht Zola jegliche Kraftanstrengung und Kraftentfaltung in der Natur ebenso wie im menschlichen Dasein. Schon mit dem Studium der Vererbung war Zola dem Wirken
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