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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20
Autoren: Émile Zola
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Macquart und dem Verbluten des ätherisch schönen, aber debilen Urenkels Charles vor den Augen seiner irren Ururgroßmutter zu Ende geführt. Doch gegen diese mit »mathematischer Exaktheit« eingetretenen letzten Zerrüttungen eines erbkranken Geschlechts setzt Zola die Auspendelungen der »heilen« Familienmitglieder. Und so stellt er mit dem Doktor Pascal in den Mittelpunkt seines Romans einen Mann, der mit diesem fürchterlichen Stamm der RougonMacquart weder physisch noch psychisch mehr etwas gemein hat, sondern innerhalb der möglichen Vererbungstypen den einzig möglichen Fall des Ausscheidens aus der Kette darstellt, den der innéité.
    Durch ihre nicht näher bestimmten und im einzelnen auch nicht aufhellbaren Gesetzmäßigkeiten – Kreuzungen blutsmäßig ererbter Anlagen und milieumäßig erworbener neuer Eigenschaften – war gleichsam ein Schlupfloch offengehalten aus diesem Gefängnis der Vererbung. Aber Pascal ist nicht der einzige, den Zola durch dieses Schlupfloch aus dem Bagno seiner Doppelfamilie entkommen läßt. Clotilde ist das zweite Beispiel möglicher Korrektur vor allem durch Milieueinwirkung und Erziehung, und ihr letzter Blick auf den Stammbaum am Ende des Romans gilt denen, die die nächste Generation bilden werden, den Kindern, und auch unter ihnen überwiegt das »gesunde« Element. Selbst Etiennes Töchterchen scheint wohlauf, der Sohn von Octave Mouret gedeiht prächtig, und die Familie Jeans, des gesunden Bauern aus der »Erde« und dem »Zusammenbruch«, mit seiner ebenso gesunden, tüchtigen jungen Frau, verheißt der kranken Familie eine neue Zukunft, ein gesundes, »saft und kraftstrotzendes« Geschlecht. Und wenn Clotilde und Pascals eigenes Kind auch ob seiner Jugend die Frage an die Zukunft gleichsam noch offenhält, so ist die Richtung ihrer Beantwortung doch auch hier schon positiv festgelegt. Das letzte Wort in den Vererbungsfragen ist nicht schicksalhafte Verkettung in den dunklen Strängen des ererbten Blutes, sondern die Zuversicht in den möglichen Neubeginn. Statt des ursprünglichen schwarzen Vererbungsfatalismus – optimistisches Zukunftsvertrauen.
    In gewisser Beziehung stellt diese »wissenschaftliche« Schlußfolgerung die »Wissenschaftlichkeit« der physiologischen Ausgangsthese in Frage, und man könnte die Verbrennung der langjährigen Aufzeichnungen Pascals über die Vererbungsfälle seiner Familie im Hinblick auf die Aussage des Romans – nicht auf die Fabel – als Symbol für die Zurücknahme der absoluten Gültigkeit dieser in den Anfängen vertretenen Theorien werten. Nicht zufällig findet sich in Zolas Reden aus jenen Wochen und Monaten der Abfassung des Romans und auch im »Doktor Pascal« selbst mehrfach der Gedanke, daß er in seiner Jugend ein Sektierer gewesen sei. Das sagt er dem Redakteur des »Temps«, das erklärt er zweimal vor den Studenten, und das kommt auch in den Schlußgedanken dieses Romans wieder. Andererseits aber bedeutet die Korrektur der physiologischen Grundthese, des Vererbungsfatalismus zugunsten eines Zukunftsoptimismus, die mit Zolas gesamter veränderter Konzeption literarischer Wirkungsmöglichkeiten zusammenhängt, keineswegs eine Korrektur seines grundsätzlichen Verhältnisses zur Wissenschaft. In dieser Hinsicht schließt die Reihe, wie sie begonnen.
    »Ich glaube an die Wissenschaft …« ist der Leitsatz aller Äußerungen Zolas aus dieser Zeit. Es ist auch der Tenor von Pascals Credo, mit dem er Clotildes Zweifel an der Wissenschaft entgegen tritt:
    »Ich glaube, daß die Zukunft der Menschheit auf dem Fortschritt der Vernunft durch die Wissenschaft beruht.
    Ich glaube, daß die Suche nach der Wahrheit mit Hilfe der Wissenschaft das göttliche Ideal ist, das sich der Mensch vornehmen soll.
    Ich glaube, daß außerhalb des Schatzes der langsam erworbenen und unverlierbaren Wahrheiten alles Illusion und Eitelkeit ist.
    Ich glaube, daß die Summe dieser ständig vermehrten Wahrheiten dem Menschen eines Tages eine noch nicht abzuschätzende Macht geben wird und die Heiterkeit der Seele, wenn nicht das Glück …
    Ja, ich glaube an den schließlichen Triumph des Lebens.« (Hervorhebung R. Sch.)
    Dieses Credo war die fast wörtliche Wiederholung des Credos von Renan aus seinem 1890 publizierten Buch »Zukunft der Wissenschaft« in der Zusammenfassung de Vogüés. Zola hatte es in seinen Vorarbeiten kopiert und dann hinzugefügt: »Ich kann diese Ideen, die sehr vollständig sind, durchaus für meinen Doktor Pascal
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