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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20
Autoren: Émile Zola
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vergangenheitsgeschichtliche Epoche, sondern gleichsam auf die Widerspiegelung ihrer Konsequenzen in den geistigen Kämpfen der Gegenwart, mit deren Aufgreifen jedoch gerade der historische Rahmen der dargestellten Epoche gesprengt und die eigentliche historische Aufgabenstellung überschritten wurde zugunsten drängender aktueller Probleme, die in die Zukunft wiesen.
    Und diese aktuellen Probleme modifizieren auch die »wissenschaftliche« Schlußfolgerung. Nimmt man Zola in den Planentwürfen beim Wort, so stand die wissenschaftliche Grundlage des ganzen Werkes, die Vererbungstheorien des Dr. Lucas, überhaupt nicht zur Diskussion. Sie waren die Conditio sine qua non, auf die sich der Monumentalbau gründete. An ihrer Gültigkeit war nicht zu rütteln. Die Kräfte der Vererbung bestimmten nach Zolas Ansicht wie die Gewalten eines unabänderlichen Schicksals das Leben des einzelnen, unabwendbar, unbeeinflußbar. Ihrem Wirken war der Mensch rettungslos ausgeliefert, so wie Jacques Lantier, der im Liebesrausch töten muß.
    Die reale gesellschaftliche Situation des einzelnen, seine Lebenstätigkeit, die das eigentliche menschliche Wesen erst bestimmen, erzeugt in dieser Sicht, ebenso wie nach der Anthropologie Comtes und Taines, nur eine dünne Firnisschicht an der Oberfläche. Kratzte man sie ein wenig weg, so kam darunter bei arm und reich, bei hoch und tief, bei Bürger und Arbeiter das ewig gleiche »Tier im Menschen« zum Vorschein. Die einzige aus diesen »wissenschaftlichen Erkenntnissen« zu ziehende »Schlußfolgerung« war, daß man sie bei der künstlerischen Menschengestaltung in Rechnung stellen mußte. Diese Einsicht war Zolas Ausgangspunkt. Verstand er seinen Zyklus in gewisser Hinsicht doch geradezu als die Probe aufs Exempel dieser Theorien.
    »Ich studiere die doppelte Familie der Rougon Macquart. Sie erzeugt verschiedene Sprößlinge, gute und schlechte. Ich suche in den Fragen der Vererbung den Grund für diese ähnlichen oder entgegengesetzten Temperamente. Das heißt, ich studiere die Menschheit selbst, in ihrem intimsten Räderwerk; ich erkläre dieses offensichtliche Durcheinander der Charaktere, ich zeige, wie eine Familie sich bewegt, indem sie sich entfaltet und zehn, zwanzig Individuen hervorbringt, die auf den ersten Blick grundsätzlich verschieden erscheinen, deren innerste Verkettung aber die wissenschaftliche Analyse aufzeigt. Die Gesellschaft hat sich nicht auf andere Weise herausgebildet. Durch die Beobachtung, die neuen wissenschaftlichen Methoden, gelingt es mir, den Faden zu entwirren, der mit mathematischer Exaktheit von einem zum anderen führt. Und wenn ich alle Fäden in der Hand halte … studiere ich zugleich die Willensanstrengung eines jeden und die allgemeine Entwicklungsrichtung des Ganzen. Deshalb wähle ich das Zweite Kaiserreich als Rahmen … So beruht jeder Roman auf zwei Studien, der physiologischen Studie und der sozialen Studie – und würde so den Menschen unserer Tage insgesamt studieren.«
    Die gleichen Gedanken wiederholt Zola im »Doktor Pascal« im fünften Kapitel in der großen entscheidenden Szene, in der Pascal Clotilde anhand der Akten und des Stammbaums den Sinn seiner jahrelangen mühseligen Studien zu erklären sucht:
    »Unsere Familie könnte heute der Wissenschaft als Beispiel dienen, der Wissenschaft, deren Hoffnung es ist, eines Tages mit mathematischer Exaktheit« – da ist wieder der Gedanke aus den Entwürfen! – »die Gesetze der Wechselfälle der Nerven und des Blutes zu formulieren, die in einer Rasse als Folge einer ersten organischen Schädigung zutage treten und die je nach dem Milieu bei jedem Individuum dieser Rasse die Gefühle, die Triebe, die Leidenschaften, alle menschlichen Äußerungen, alle natürlichen und instinktiven, erzeugen, deren Produkte den Namen von Tugenden oder Lastern annehmen.« (Hervorhebung R. Sch.)
    Doch das Gesamtergebnis, zu dem die im »literarischen Experiment« an den RougonMacquart erprobten »fatalités de la descendance« in diesem letzten Roman führen, widerlegt mehr den Vererbungsdeterminismus, als es ihn belegt, und widerspricht damit ebenfalls der ursprünglichen Anlage. Denn die »erste organische Schädigung«, die Nervenzerrüttung der Urahne Adélaïde, sollte zu einem fortschreitenden Verfall der ganzen Familie und ihrer schließlichen Rückkehr in den Zustand des »Stumpfsinns« führen. Und in gewisser Beziehung hat Zola dieses Programm auch mit der Selbstverbrennung des Alkoholikers
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