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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut
Autoren: Timothy Findley
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Und Noah ging in die Arche mit seinen Söhnen, seiner Frau und den Frauen seiner Söhne vor den Wassern der Sintflut.
     
    Genesis 7,7
     
     
     
    Jeder weiß, dass es so nicht war.
    Zum einen klingt es, als habe es keinen Streit gegeben, keine Panik – als sei keiner beiseite geschoben, keiner niedergetrampelt worden –, als habe keines der Tiere gebrüllt, keiner der Menschen laut geschrien. Es klingt, als hätten allein Doktor Noyes und seine Familie an Bord gehen wollen. Standen alle anderen (der Rest der Menschheit sozusagen) weitab und winkten ihnen hinter einer Barrikade fröhlich zu? ZUSCHAUERN IST NICHT ERLAUBT, DIE GELBE LINIE ZU ÜBERTRETEN und: DANKE FÜR IHRE KOOPERATION. Alles Gepäck säuberlich etikettiert: WÄHREND DER REISE BENÖTIGT oder WÄHREND DER REISE NICHT BENÖTIGT.
    Es klingt auch, als habe es keine Angst gegeben – als hätten Noah und seine Söhne ganz entspannt unter einer blau-weiß gestreiften Markise auf dem Achterdeck gesessen, genüsslich Portwein geschlürft und Zigarren geraucht. Als hätten sie dabei Kapitänsmützen, Hosen aus weißem Segeltuch und Blazer getragen. Als seien Mrs Noyes und ihre Schwiegertöchter, sauber und adrett gekleidet, unter ihrem Regenschirm vor Nässe geschützt, die Laufplanke hochgeflattert, hätten sich umgedreht und gerufen: »Auf Wiedersehen, Freunde!« Und alle ihre Bekannten hätten zurückgerufen: »Gute Reise!«, während die Schwiegertöchter, lächelnd, lachend, ihre Schiffsfahrkarten hinhielten; als ob jeder mit einem Pfeifsignal an Bord empfangen worden wäre, eine Kapelle Rule Britannia! und Over the Sea to Skye gespielt hätte. Fahnen und Wimpel und eine donnernde Kanone… wie eine Fahrt auf einem Ausflugsdampfer.
    Jedoch: Es war kein Ausflug. Es war das Ende der Welt.
     
     
    Mrs Noyes rannte und rannte – blindlings durch die immer dunkler werdenden Gänge –, ihre Röcke und Schürzen um die Oberschenkel gerafft; rannte in der blinden Panik einer Mutter, die ihre Kinder nicht finden kann, obwohl sie ihre Hilfeschreie hört. Rauch strömte von einer Öffnung des Hauses zur andern. Zuerst war Mrs Noyes überzeugt, dass das Feuer von drinnen kam, doch als sie die offene Tür erreichte und den lodernden Scheiterhaufen erblickte, wusste sie, es war nicht das Haus, sondern etwas anderes – etwas Lebendiges –, das in Flammen stand.
    Nur eine Sekunde zögerte sie – nur so lange, bis sie die Arme als Schutz gegen die Hitze hochgerissen und sich eine Schürze um den Kopf gebunden hatte, denn die Luft war voller Funken, groß wie Vögel, und ihr Haar war zundertrocken – und schon rannte sie erneut los – raste durch den dichter werdenden Rauch und versuchte verzweifelt herauszufinden, woher dieses hohe Wehklagen stammte; es war ein – und doch war es kein – Schrei, den sie erkannte. Sie versuchte nun auch die Gestalten zu erkennen und zu zählen, die mit ihr durch den Ofen (jetzt kam es ihr vor wie ein Ofen) drängten, festzustellen, ob es menschliche Gestalten – ihre Söhne – ihr Mann – ihre Schwiegertöchter waren…
    Nichts von dem, was sie sich bewegen sah, hatte Füße oder Beine – nur Arme und Hals und Kopf –, und alles trieb dahin – stemmte sich durch die Rauchschwaden hoch wie Tiere, die beim Ertrinken auf die Oberfläche schnellten, dann versanken und wieder hochschnellten. Und noch einmal hochschnellten – und endgültig verschwanden.
    Mrs Noyes stand da – wie angewurzelt – und starrte, die Hand gegen den Mund gedrückt, von einer Seite zur anderen. Und während sie so schaute und lauschte, überkam sie allmählich eine furchtbare Gewissheit. Sie erfasste, was hier vor sich ging – und Panik machte ihre Beine bleischwer und trübte ihren Verstand und die eine Erkenntnis ließ sie erstarren.
    Noah!…
    Genug!

 
     
     
    Buch Eins
     
     
     
    Da sah Gott auf die Erde, und siehe, sie war verderbt;
    denn alles Fleisch hatte seinen Weg verderbt auf Erden.
     
    Genesis 6,12

Die Nachricht von der Ankunft der Botin verbreitete sich wie ein Lauffeuer.
    Zuerst war sie weit unten im Tal gesichtet worden, wo sie sich anhand des Flusslaufes ihren Weg bahnte. Schiffer hielten in ihrem Kampf gegen die Strömung inne, starrten und deuteten auf das Wunder ihrer Farben. Da ließ sich die Botin vom Aufwind hochtragen – ihre Kraft versiegte allmählich –, verzweifelt suchte sie unter sich nach Orientierungspunkten, entdeckte endlich Staubfahnen, ein Hinweis auf Karren und Reiter; um den Hügel machte die Straße
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