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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut
Autoren: Timothy Findley
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einen Bogen. Handwerksgesellen, die auf dem Weg nach oben waren, hielten inne, als sie mit ihrem Aufstieg begann. Der erst kurz zuvor erfundene Sonnenschutz in Form breitkrempiger Strohhüte ließ die Menschen auf der Straße wie Pilze aussehen – die Botin musste dabei an Essen denken. Sie war hungrig, konnte sich jedoch beherrschen, und obwohl sie die ganze Nacht und den Vormittag durchgeflogen war, hatte sie nur einmal in der Morgendämmerung eine Pause gemacht, um im Teich eines Bauernhofes ihren Durst zu stillen.
    Nun war sie fast am Ende ihrer Reise angekommen. Die Sonne brannte auf ihren schmalen Rücken und warf ihren Schatten, einem laufenden blauen Tier gleich, auf den Pfad unter ihr. Fuhrleute, Reiter und Arbeiter, alle legten sie den Kopf in den Nacken und beschirmten mit den Händen die Augen, um sie oben vorbeiziehen zu sehen. Einige riefen ihr zu, auch wenn sie ihre Stimmen kaum hören konnte: »Woher kommst du? Wohin fliegst du?« Doch andere, die wussten, was ihre Farben bedeuteten, stellten keine Fragen. In Zeiten wie diesen konnten die Antworten nur beunruhigend ausfallen; sie blieben also besser unbekannt.
    Oben auf dem Berg zeigten ihr die Pinie, die grobe Steinterrasse und der Altar mit der breiten, fleckigen Oberfläche, dass sie das Ziel ihrer Reise erreicht hatte. Sie ließ sich tiefer Richtung Boden sinken und konnte nun auch den trockenen Lehmpfad sehen, der zum Anwesen führte. Kaputte Mauern und zusammengedrängte Gebäude, Schafhürden und Rinderpferche bildeten Muster unter ihr. Rauchende Kamine zeigten ihr, wo sich Küchen und Nutzgärten befanden. Der dampfende Misthaufen; die konischen geflochtenen Bienenkörbe; der Obstgarten; das Badhaus und die gelb gewordenen, aus Mangel an Regen ausgedörrten Rasenflächen, alles führte sie weiter, bis sie endlich den Walnussbaum mit seinen großen schwarzen Armen und den verdrehten Blättern erspähte – das eine letzte Zeichen, das sie suchte: das Wahrzeichen der Familie, die dort wohnte.
    Obwohl bis zum Zusammenbrechen erschöpft, unternahm die Botin eine letzte Anstrengung, um sich bemerkbar zu machen. Sie blieb schwebend über dem Gebäudekomplex hängen und schlug dabei so lange ihre Flügel gegeneinander, bis es klang wie das Zuschlagen von Türen oder zerbrechendes Glas. Und als der Lärm seinen Höhepunkt erreicht hatte, stand ein alter Mann in einer Laube unter dem Walnussbaum auf und ging zu der offenen Stelle, über der sie schwebte. Als die Botin an seinem überraschten Blick merkte, dass er sie wiedererkannte, wusste sie, er war derjenige, um dessentwillen sie so weit geflogen war. Langsam hob der alte Mann seinen Arm zum Gruß und hielt ihr seinen schweren Ärmel hin, damit sie sich niederließ.
     
     
    Sobald die Botin Doktor Noyes den Brief ausgehändigt hatte, flog sie über seinem Kopf auf, stieß einen gewaltigen Schrei aus und fiel wie ein Stein zu seinen Füßen nieder.
    Alle kamen sie gelaufen: Sem kam mit seiner Sense vom Berg und Mrs Noyes kam aus der Küche; Emma und ihr Hund kamen aus der Spülküche; Japeth – blau und triefnass – kam aus dem Badhaus und Hannah aus dem Obstgarten. Nur Ham fehlte – er war im Zedernhain und wartete auf das Sichtbarwerden von Mars.
    »Was ist? Was ist los?«, fragte Mrs Noyes, deren Stimme vom vielen Herumschreien mit Emma wie üblich heiser war.
    Doktor Noyes hatte das Siegel noch nicht aufgebrochen. Er starrte auf die rosa- und rubinrote Taube, die vor ihm am Boden lag; ihre Flügel zuckten noch und Staub legte sich auf ihr trübes Auge. Während Doktor Noyes darauf wartete, dass sie starb, murmelte er so etwas wie einen Segen, aber er zitterte dabei – vor Angst – und seine Worte waren nicht vernehmbar.
    Einen Augenblick lang – die anderen sahen ihn ungeduldig an – stand er einfach nur da, und als er seine Füße von dem sterbenden Vogel wegziehen wollte, konnte er sie nicht von der Stelle rühren.
    Da hielt es Mrs Noyes nicht länger aus und fragte: »Was steht in dem Brief, Noah? Was ist mit dem Brief?«
    Endlich brach Doktor Noyes das Siegel auf und schielte auf das offene Blatt.
    Sem, Hannah, Japeth, Emma, Mrs Noyes und sogar Emmas Hund beobachteten ihn, während er jedes Wort las und abermals las; langsam bewegten sich seine Kiefer durch die Sätze hindurch, einen nach dem anderen. Alle versuchten von seinen Lippen etwas abzulesen, doch sein Bart war so dicht und verfilzt, dass man seinen Mund kaum sehen konnte.
    »Na?«, fragte Mrs Noyes.
    »Er kommt«, sagte
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