Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut
Autoren: Timothy Findley
Vom Netzwerk:
aufgesetzt. Hannahs Aufgabe bestand darin, Kränze, Hüte und Körbe, Kleidung, alles herzustellen, was aus Stoff, Stroh oder Blumen gefertigt werden konnte. Sie war die Einzige, die »ihrer Arbeit nachging«, wie er, Doktor Noyes, es ihr aufgetragen hatte. Sie war der einzige Schatz unter ihnen allen.
    Mrs Noyes’ Rücken versteifte sich. Und ich bleibe allein zurück mit Emma, dachte sie. Wie immer. Sie streckte die Hände aus, um dem Mädchen auf die Füße zu helfen. »Komm!«, sagte sie. »Wir haben Arbeit für acht Tage und nur einen Tag Zeit…«
    Emma ging mit ihr zurück zu den Küchen und zur Spülküche, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht hatte – so kam es ihr jetzt vor –, außer dem Teil, in dem sie mit dem Verstecken blutbeschmierter Unterröcke und dem Vermeiden auf und nieder hüpfender Matratzen beschäftigt war.
     
     
    Nachdem Doktor Noyes in der Laube verschwunden war, blieben der Pfau, Emmas Hund und Japeth in dem sonnverbrannten Hof allein zurück mit Jahwes im Staub liegender rosa- und rubinroter Taube.
    Japeth streifte sich die Haare aus den Augen und knabberte an seiner Lippe. In letzter Zeit schien sein Leben nur noch aus Katastrophen und Schande zu bestehen, seine Fähigkeit zu fühlen, seine Emotionen, waren ihm fast gänzlich genommen. Seine Frau weigerte sich, mit ihm zu schlafen; sein Vater weigerte sich, ihn zu ehren; seine Freunde lachten ihn aus und seine Mutter zwang ihn, den ganzen Tag in einer Wanne voll Lauge zu hocken und schrie ihn dabei an: »Los, schrubb dich! Schrubb! Schrubb!« Sein Handtuchfetzen rutschte ihm von den Hüften und entblößte ihn ganz – von oben bis unten, von vorne bis hinten. Aber es kümmerte ihn nicht. Er stellte sich sogar, die Arme über dem Kopf, vor dem prüfenden Blick des Pfaus in Positur. Doch der, ganz offensichtlich unbeeindruckt, drehte sich um, stolzierte zum Schatten, den die Mauer warf, und faltete seine Schwanzfedern wieder zusammen.
    Nun waren noch Japeth, Emmas Hund und die Taube übrig.
    »Das ist alles nur, weil ich von oben bis unten blau bin«, sagte Japeth. »Und das ist nicht fair! Ich habe nicht um die blaue Farbe gebeten…« Völlig niedergeschlagen schleifte er sein Tuch zum Badehaus zurück.
    Damit blieben noch Emmas Hund und die Taube.
    Emmas Hund war klein, schwarz und zottelig. Erst wenn er sich bewegte, konnte man erkennen, wo vorne und wo hinten war. Emma hatte ihm den treffenden Namen »Bello« gegeben, denn er tat nicht viel außer bellen und Alarm schlagen, meist Fehlalarm.
    Bello war die Taube nicht geheuer. Er spürte, dass sie irgendwie anders war als die anderen Vögel, die wie Geschenke vom Himmel fielen, nachdem sie von einem Pfeil Japeths getroffen oder von Hagelkörnern betäubt worden waren. Die Flügel dieser Taube strahlten eine Wärme aus, die bei einem toten Wesen unnatürlich war – und sie hatte keinen Geruch außer einer sehr schwachen Spur von Rosenduft, was zu einem Vogel so gar nicht passte.
    Gerade als Bello, nachdem er die Taube inspiziert hatte, sich wieder in den Schatten zurückziehen wollte, wurde nach ihm gerufen.
    »Komm, Bello! Komm!«
    Der Hund rannte in Richtung Obstgarten, weil die Stimme von dort kam, doch plötzlich blieb er stehen. Wessen Stimme war das gewesen? Zu wem lief er eigentlich?
    »Komm, Bello!…«
    Die Stimme war ihm unbekannt. Trotzdem, wer auch immer es war, der Besitzer der Stimme kannte ihn. Also trottete er hin – ganz langsam.
    Zurück blieb die Taube.
    Sobald Noah seine Laube unter dem Walnussbaum erreicht hatte, nahm er den Brief heraus und las ihn fünfmal hintereinander. Beim letzten Mal brach er in Schweiß aus. Seine Hände zitterten so stark, dass er den Brief mit Gewalt gegen sein Lesepult drücken musste, um ihn überhaupt erkennen zu können. Mal verschwammen die Worte vor seinen Augen, mal wurden sie wieder klarer. Jahwe hatte ausführlich von seinem »Leid… Ärger … Entsetzen« und von seinem »Zorn« über den Zustand der Welt und der Menschheit geschrieben. Doch wie erschütternd das alles auch sein mochte, nichts von alledem war unbedingt etwas Neues.
    Doch dann hieß es weiter in dem Brief: »WAS HABEN WIR GETAN, DASS DER MENSCH UNS SO BEHANDELT?«
    Langsam sank Noah auf die Knie.
    Warum sollte Jahwe eine solche Frage stellen? Was haben Wir getan? …
    War es wichtig, was Er tat? War Er denn nicht Gott?
     
     
    Etwa eine Stunde vor der Opferzeremonie zog sich Mrs Noyes aus der Küche zurück und ließ Emma allein, die auf einer Kiste stand
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher