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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut
Autoren: Timothy Findley
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hören. Sie werden es sehen… und heute ist kein Festtag.«
    Mrs Noyes, die jegliches rituelle Opfer hasste, machte den Mund auf, um Sem zuzustimmen, zu spät, Noah hatte schon zu sprechen begonnen.
    »Wir können nichts dagegen tun«, sagte er. »Sie mögen darüber denken, wie sie wollen; ein Opfer wird von uns verlangt, es ist ein Befehl.«
    »Ja, Vater.« Sem war schon halb beim Tor, wo Japeths Wölfe im Schatten neben den Wassertrögen lagen. Es drängte ihn zu gehen, aber Doktor Noyes war noch nicht fertig.
    »Ich will, dass du den Altar vorbereitest«, sagte er.
    Sem nahm diesen Wunsch mit Bestürzung auf. Er war der älteste Sohn; die Vorbereitung des Altars gehörte jedoch zu den am wenigsten ehrenvollen Aufgaben beim Opferritus. Als er ein Kind war, hatte er diese Pflicht zuletzt erfüllt. Jetzt war es Japeths Aufgabe, denn er war der Jüngste.
    Als wäre er beim Namen gerufen worden, trat Japeth vor; um die Taille hielt er einen Tuchfetzen fest, er roch nach der Lauge vom Badhaus, seine Haare hingen ihm ins Gesicht. Aber seine Augen strahlten vor freudiger Erwartung.
    Doktor Noyes war klar, was Japeth wollte, doch er würde ihm seinen Wunsch abschlagen. Der Anlass war viel zu wichtig, als dass auch nur ein Teil des Ritus danebengehen dürfte. Das letzte Mal, als er Japeth erlaubt hatte, das Messer zu führen, war der Schnitt nicht sauber gewesen und das Opfertier – obwohl das Geringste unter den Tieren (ein Kaninchen bloß) – wäre fast entkommen. Zum Glück war der Anlass damals nicht so wichtig gewesen – ein Namenstag –, nicht dazu angetan, ein Unglück heraufzubeschwören. Aber Doktor Noyes hatte damals genug von der Unfähigkeit seines jüngsten Sohnes gesehen, er war gewarnt, würde ihm nie wieder eine solch wichtige Aufgabe anvertrauen.
    Japeth bettelte: »Bitte, Vater.«
    »Nein«, sagte Noah. »Du darfst die Schüssel halten.«
    Sems riesiger, flacher Körper zuckte vor Ungeduld. Zu reden, frustrierte ihn. Warum nicht einfach etwas tun? Reden, so hieß es, war »billig«. Doch nicht für Sem. Für Sem bedeutete Reden Zeit und Geld, die einem durch die Finger glitten. Er wollte gehen und das sagte er auch.
    Noah machte eine zustimmende Bewegung. »Aber denk dran, keiner darf es erfahren!«
    »Ja, Vater.«
    Als Sem durch das Tor ging, hoben die Wölfe den Kopf und schauten ihm nach. Wegen der Hitze waren ihre Zungen blass vor Erschöpfung und ihre Ketten hingen in den Staub.
    Doktor Noyes faltete den Brief zusammen und steckte ihn in den Ärmel seiner Robe; er hatte den Wunsch allein zu sein, sich in seine Laube unter dem Walnussbaum zurückzuziehen. In Gedanken vertieft wandte er sich schon zum Gehen.
    »Ich weiß, was du tun wirst«, sagte Mrs Noyes; sie sprach so leise inmitten der Stille, dass Doktor Noyes seine Augen beschirmen und den Hof absuchen musste, um zu sehen, woher ihre Stimme kam.
    Seine Frau stand neben der kauernden Emma, die von der Aussicht auf Jahwes Ankunft in ihrer Mitte noch ganz bestürzt war. Hannah war zur Seite getreten; ihr Blick war verträumt, sie schien kaum anwesend zu sein. Jetzt schaute sie zum Obstgarten hinüber.
    »Wie bitte?«, fragte Doktor Noyes.
    Seine Frau wiederholte: »Ich sagte, ich weiß, was du tun wirst, und ich bitte dich, es nicht zu tun.«
    »Oh, wirklich?«
    »Ja.«
    »Dann sag mir, was ich tun werde. Aber genau.«
    »Du wirst verlangen, dass Ham das Opfer durchführt.«
    Doktor Noyes schwieg. Sie hatte Recht.
    »Es ist nicht fair«, sagte Mrs Noyes. »Es ist nicht gerecht. Er hat noch nie in seinem Leben getötet.«
    Doktor Noyes steckte beide Hände in die Ärmel seiner Robe und umfasste seine Ellbogen. Sein Blick blieb ruhig und seine Stimme fest. »Es ist das Recht – und Vorrecht – eines Sohnes«, sagte er, »das Opferritual durchzuführen, wenn man es von ihm verlangt. So lautet das Gesetz«, sagte er. »Und so wird es geschehen.«
    »Aber es verstößt gegen seine naturwissenschaftlichen Prinzipien«, hielt Mrs Noyes ihm entgegen. »Und das weißt du genau!« Sie wünschte, ihre Stimme wäre stärker. Sie hätte schreien mögen.
    »Die einzigen Prinzipien, die hier zählen, meine Liebe, sind die des Ritus und der Tradition«, sagte Doktor Noyes.
    »Die einzigen Prinzipien, die hier zählen, sind deine«, gab Mrs Noyes zurück, »und du wirst Ham das Herz brechen, wenn du darauf bestehst.«
    »Nun gut«, sagte Doktor Noyes. »Er wird sein Herz eben für Jahwe brechen. Es ist auch Zeit. Ich habe Ham und seine Wissenschaft
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