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Die letzte Flut

Die letzte Flut

Titel: Die letzte Flut
Autoren: Timothy Findley
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satt!«
    Der Pfau, der noch immer sein Rad zur Schau stellte, reckte jetzt den Kopf auf dem gestreckten Hals und gab einen durchdringenden Schrei von sich.
    »Siehst du?«, sagte Doktor Noyes. »Jedes Zeichen und jedes Signal bestätigen nur meine Entscheidung.« Er lächelte, musste dabei aber seine Lippen fest um das hölzerne Gebiss spannen, das ihm fast aus dem Mund gefallen wäre.
    »Mein Gott! Er ruft doch nur sein Weibchen«, sagte Mrs Noyes.
    »Wie kannst du es wagen!« Doktor Noyes war wütend. »Wie kannst du es wagen, den Namen Gottes zu missbrauchen! Wie wagst du es!«
    Er wusste, solch ein Wutausbruch – mehr gespielt als echt – war zuweilen nötig, um Mrs Noyes in die Schranken zu weisen. Und um die anderen Frauen einzuschüchtern, damit sie ihrem Beispiel nicht folgten und ebenfalls aus der Rolle fielen. In letzter Zeit war zu viel dergleichen geschehen: Emma zum Beispiel weigerte sich ständig mit ihrem Mann Japeth zu schlafen, auch wenn sie jetzt einen guten Grund dazu hatte: Japeth war am ganzen Körper blau geworden. Und Hannah zeigte manchmal diesen verträumten Blick – als gehe ihr etwas Unerhörtes – vielleicht etwas Gefährliches – durch den Sinn. Man musste sie unter Kontrolle halten – alle miteinander; deswegen reagierte Doktor Noyes so schnell mit gespielten Wutausbrüchen und anderen Angst einflößenden Gefühlen. »Wie wagst du es!«
    »Es tut mir Leid«, sagte Mrs Noyes und ihre Stimme war wieder leiser geworden, nur noch ein heiseres Flüstern. Und wirklich, es tat ihr Leid; sie bereute sogar, was sie gesagt hatte. Sie hatte Jahwe nicht beleidigen wollen. Es war doch nur so ein Ausdruck – »mein Gott«. Die Leute sagten es tagtäglich einfach so dahin, die meisten Leute. Es war nicht als Beleidigung oder Spott gemeint. Nur… der Pfau hatte sein Weibchen gerufen, nicht mehr war geschehen. Mrs Noyes wusste das. Schließlich war es ihr Pfau… jeden Morgen hielt sie ihn, während er sein Gefieder putzte, und sie fütterte ihn aus der Hand. Sie kannte ihn besser als irgendjemand sonst. Trotzdem wiederholte sie: »Es tut mir Leid. Ich entschuldige mich.«
    »Bei Jahwe?«
    »Natürlich bei Jahwe.«
    »Und…?«
    Eine kurze Pause entstand, während Mrs Noyes sich sammelte. Sie hasste das, was als Nächstes von ihr erwartet wurde, und obwohl sie wusste, dass sie nicht umhinkäme, es auszusprechen, kam es ihr nur sehr schwer über die Lippen und gar nicht aus dem Herzen.
    »Und…?«, wiederholte Doktor Noyes. »Du entschuldigst dich bei Jahwe. Und…«
    »Bei dir.«
    Kaum hörbar brachte sie die Worte heraus. Aber sie hatte sie ausgesprochen.
    Hannah schaute zu Boden, der Erniedrigung ihrer Schwiegermutter bewusst. Sie seufzte und wandte ihren Blick zu den bröckelnden Mauern an der Hofseite. Dort war der Obstgarten. Wenn sie nur ganze Tage darin verbringen könnte! Im Geiste sah Hannah fast vor sich, wie sie unbekümmert unter den Bäumen hin- und herging, ihre Gedanken in irgendeiner anderen Welt, bloß nicht in dieser hier. Sie würde ein langes luftiges Gewand tragen, das die Schultern unbedeckt ließ – und ein Paar Schuhe oder Sandalen, die sie vor Brennnesseln und Schlangen schützen würden. Sie würde ihre Haare losbinden, sie bis zur Taille herabhängen lassen – so lang waren sie nämlich. In den Händen würde sie Bücher und Äpfel tragen. Sie würde…
    »Hannah?«
    »Ja, Schwiegervater.«
    »Die Welt funktioniert nicht, wenn du dich daran nicht beteiligst.«
    Das war einer von Noahs Lieblingssprüchen.
    »Ja, Vater Noyes.«
    »Geh deiner Arbeit nach.«
    »Ja, Schwiegervater.«
    »Und du, meine Liebe…«
    Mrs Noyes hob das Kinn in Richtung ihres Mannes, aber sie weigerte sich, ihm mit »Ja, mein Herr und Gebieter« zu antworten; das hatte sie nie getan.
    »Du könntest jenem Geschöpf dort vom Boden aufhelfen.« Doktor Noyes deutete auf Emma und fragte dann: »Warum könnt ihr alle nicht einfach eurer Arbeit nachgehen?« Er hob die Hand, wie um sie damit aus seinen Gedanken zu entlassen. »Geht«, sagte er und wandte sich von ihnen ab.
    Hannah machte einen Schritt auf ihn zu; aus dem Augenwinkel sah er sie zornig an. Was hatte sie jetzt wieder vor?
    »Ich muss als Erstes die Krone machen«, sagte sie.
    »Aha«, sagte Doktor Noyes. »Na gut. Dann geh!«
    Doktor Noyes betrachtete seine Schwiegertochter jetzt mit Wohlwollen. Als sie an ihm vorbei zum Tor ging, nickte sie ihm heiter zu. Die aus Wiesenblumen und süßen Gräsern gefertigte Krone würde dem Opfertier
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