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Melissas Welt (Mira und Melissa) (German Edition)

Melissas Welt (Mira und Melissa) (German Edition)

Titel: Melissas Welt (Mira und Melissa) (German Edition)
Autoren: Marlies Lüer
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Unter der Linde
     
    Über mir summte und brummte es. Ein heißer Tag. Wie geschaffen, um am Nachmittag unter der alten Linde zu sitzen und den Bienen und Hummeln zuzuhören, wie sie emsig mit ihren zarten Flügeln schlugen. Ich stellte mir vor, wie sie trunken vom Nektar ihre Rüssel in die Lindenblüten tauchen und mit pollenbeladenem Haarkleid zu ihrem Nest zurückfliegen. Die Kundschafterinnen unter den Bienen tanzten ihren Schwestern die Wegbeschreibung in ihr kleines Bienenbewusstsein. Sie waren die Alten, die Erfahrenen. Gefährlich war und ist das Leben einer Kundschafterin. Nie übernahm eine junge, noch lebensstarke Biene diesen Auftrag. Sie konnte noch lange für ihr Volk arbeiten. Die, die fast am Ende ihres Daseins standen, übernahmen die Aufgabe der Kundschafterin, denn gingen sie dem Volk verloren, wog der Verlust nicht so schwer. Ich merkte, wie mich diese Vorstellung schwermütig machte und meine Gedanken zu meiner Mutter weiterwanderten. Meine Hände verrichteten dabei ohne Unterbrechung ihr Werk und schnippelten die grünen Bohnen, Pfund um Pfund.
    Sorgen machte ich mir um meine Mutter, große Sorgen. Manchmal rief sie mich zwei, drei Mal am Tag an, nur um mir dasselbe zu erzählen, so als wäre es neu. Sie leugnete dann empört, dass wir schon über dieses oder jenes Thema gesprochen hatten und legte beleidigt den Hörer auf, ohne sich von mir zu verabschieden. Tage später konnte sie sich nicht an diese Vorfälle erinnern. „Was du dir immer so ausdenkst“, sagte sie jedes Mal verwundert zu mir. Dann vergingen Wochen, in denen wir ganz normale Gespräche führten. Doch mir schien, die Abstände verringerten sich. Was passierte nur mit ihr?
    Ich schob diese Gedanken beiseite, reckte mich, um mein Kreuz vom langen Stillsitzen zu entlasten und trug dann mit langsamen Schritten den bohnengefüllten Korb in die Küche. Die Sommerhitze machte mich träge. Mit Schwung kippte ich mein grünes Schnippelwerk in das Spülbecken, riss den Korb zurück und brüllte wütend nach oben: „Miranda! Wie oft soll ich dir noch sagen, du sollst deine benutzten Teller gleich in die Spülmaschine tun. Verdammt noch mal, das kann doch nicht so schwer sein! Ist das denn zu viel verlangt?“
    Keine Antwort. Wahrscheinlich lag sie wieder auf ihrem Bett mit Kopfhörern, versunken in ihrer Musik. Falls sie überhaupt da war. In letzter Zeit verschwand sie einfach so, ohne einem von uns Bescheid zu sagen, wohin sie ging. Ich bin doch kein Baby mehr, was willst du eigentlich? Tja, was wollte ich? Dass sie uns sagte, wann sie ungefähr wiederkommt. Mit wem sie wegging. Wohin. Und dass sie ihr Handy mitnahm. Ich wollte, dass meine Sechzehnjährige wieder das nette Kind wurde, das sie mal gewesen war. Oder zumindest eine nette Pubertierende. Gott im Himmel, war ich damals auch so schwierig gewesen?
    Ich fischte die grünen Bohnen, die nunmehr mit Resten einer Schokoladenbuttercremetorte verziert waren, einzeln heraus. Nahm den schmierigen Teller, auf dem wohl auch noch Kartoffelchips gelegen hatten, und wollte ihn in die Spülmaschine tun. Bremste mich zum Glück. „Miranda! Du hast mir doch versprochen, dass du nach dem Frühstück die Spülmaschine ausräumst!“
    „ Mama, lass nur, ich mach das schon.“ Hannah, meine Älteste, kam in die Küche, legte mir kurz beschwichtigend ihre kühle, feste Hand auf die Schulter und machte sich an die Arbeit. Es dauerte keine fünf Minuten, da waren alle Teller, Tassen und Bestecke an Ort und Stelle.
    „ Ich wasche dir auch die Bohnen, setz dich doch wieder unter die Linde und ruh dich aus.“
    „ Danke, mein Schatz.“ Ich strich ihr zärtlich über ihre rotblonden Haare. „Ist Miri in ihrem Zimmer?“ Hannah sah mich mit ihren blauen, klaren Augen an und zuckte mit den Schultern. „Schon gut“, sagte ich. „Sie wird spätestens wieder auftauchen, wenn sie Hunger bekommt. Ich gehe jetzt zur Linde.“
    Das Flügelkonzert in der Baumkrone war Balsam für mich. Lauschend saß ich auf der den Baum umlaufenden Holzbank und blinzelte in die Nachmittagssonne. Auch Thaddäus genoss die wärmende Sonne. Er stellte seine Drachenschuppen etwas schräg, um das Licht besser auffangen zu können. Seine Nase kräuselte sich und winzige Rauchwölkchen ringelten aus seinen steinernen Nüstern empor. Ich schmunzelte vor mich hin. Wenn ich angespannt war, stellte ich mir zu gerne Miras Gartendrachen lebendig vor. Für Mira, meine liebe alte Freundin, war er das auf gewisse Art und Weise wohl
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