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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen
Autoren: Sascha Arango
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… Skagerrak West 11, Nordost drehend, abnehmend 10 … es wäre ein guter Moment zum Sterben gewesen, aber er, Henry der Große, starb ja nicht, sondern immer nur die anderen.
    In Feuerwehruniform verteilte Elenor Reens Kaffee mit Butterkeksen. Henry dachte an Sonja und seinen Hund. Die Müdigkeit schloss ihm die Augen, verschwommen sah er Elenor mit ihrer Kaffeekanne und ihrer gottverdammten Fürsorge, ihrem Streben nach Glück und Gerechtigkeit und die sem ihm so unbegreiflichen Wunsch nach Miteinander. Er fühlte seine nasse Hose und die Taubheit der Haut im Gesicht. Dann schloss er die Augen und betrat das Haus seiner Eltern. Er stieg langsam die Treppe empor, wie sein Vater damals, er sah Licht unter dem Türspalt im Kinderzimmer, er hörte es im Zimmer rascheln, öffnete die Tür, sah die durchnässte Matratze, der kleine Henry hatte wieder versucht, die nassen Bettlaken zu verstecken. Er fühlte Wut hinter geschlossenen Augen, packte den Jungen, zog ihn unter dem Bett hervor. »Warum versteckst du dich vor mir. Wieso bist du nicht in der Schule, warum machst du jede Nacht ins Bett, wo ist deine verdammte Mutter?«

XXII
    V ereinzelt stachen noch zersplitterte Dachbalken in den wolkenlosen Himmel, an denen sich Fetzen von Dämmwolle verfangen hatten. Der gesamte Dachstuhl war mit dem Wind auf und davon. Zahllose Trümmerstücke lagen im Garten verstreut. Holz, Äste, Laub, Splitter, Ziegelsteine, entwurzelte Pflanzen und viel Glas. Zwischen all dem Schutt fand Henry den toten Marder. Mit gebrochenem Genick lag das Tier zwischen den Steinen. Henry begrub ihn, damit der Hund ihn nicht fraß.
    Der Rest des Gebäudes war, bis auf ein paar zerbrochene Fenster, lädiert, aber unversehrt. Es war ein Abschied auf Raten gewesen. Erst von Martha, dann Betty, jetzt der Marder. Es gab keine Gründe mehr, hierzubleiben. Er würde das Haus verkaufen, sicherlich zu einem schlechten Preis, aber immer noch mit Gewinn. Es war Zeit geworden für einen Neubeginn.
    Poncho lief schnüffelnd umher und wedelte hocherregt mit dem Schwanz. Die schöpferische Zerstörung des Sturms hatte neue, interessante Gerüche kreiert, eine ausgebombte Stadt muss mit ihrem Aroma von Verwüstung und Verwesung ein Eldorado für Hunde sein. Die Giebelwand der Scheune hatte der Wind eingedrückt, Teile waren auf Marthas Saab gestürzt und hatten das Dach der Karosserie deformiert. Die Frontscheibe war geplatzt, die Fahrertür des Saab stand offen.
    Â»Komm, steig ein, setz dich zu mir.«
    Henry drehte sich nach der Stimme um. Es war Marthas Stimme, klar und sanft wie während all der Jahre ihrer Ehe. Niemals war sie laut geworden, auch jetzt nicht. Martha saß nicht im Wagen, was Henry nicht weiter verwunderlich fand, schließlich sind immaterielle Präsenzen nicht ortsgebunden.
    Â»Ich habe es satt, den Schriftsteller zu spielen«, entgegnete er ruhig, aber bestimmt, denn man soll Halluzinationen mit Respekt behandeln, aber auch nicht verhätscheln. »Es war dein Wunsch, ich habe es für dich getan, ich habe es gern getan, aber du existierst nicht mehr. Ich möchte nicht mehr Schriftsteller sein.«
    Â»Was hast du vor?«
    Â»Nichts Konkretes. Das hier zu Ende bringen.«
    * * *
    Wie Henry der Regionalzeitung entnahm, richtete der Orkan wohl einen wesentlich geringeren Schaden an als befürchtet. Bei den Rückversicherungsgesellschaften ging das Ergebnis als Feiertag in die Geschichte der Regulierung von Naturkatastrophen ein. Man kann die Aktionäre nur beglückwünschen. Größtenteils hatte es nur die kleinen Leute getroffen, die sich aufwendige Versicherungen nicht leisten können. Viele Fischereiboote, einige Hafenanlagen, Schulgebäude und Brücken in Küstennähe waren zerstört oder beschädigt worden. Nichts von Bedeutung für einen multinationalen Konzern.
    Unter Regionales fand Henry folgende Meldung:
    Â»â€¦ an dem besonders stark betroffenen Küstenabschnitt entdeckten Freiwillige des Küstenschutzes gestern das Wrack eines PKWs, am Steuer eine weibliche Leiche. Die Kriminalpolizei hat bereits die Ermittlungen übernommen.«
    Man hatte sie also gefunden. Henry versuchte sich vorzustellen, was wohl in dem armen Jenssen vorgehen würde, wenn er erfuhr, welcher Mensch diese Leiche einmal gewesen war und in wessen Wagen sie nun saß. Er würde vermutlich verblüfft sein. Marthas biologischer
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