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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen
Autoren: Sascha Arango
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folgte ihm durch einen verwinkelten Raum, der möglicherweise einmal das Esszimmer gewesen war, zu einer engen Treppe mit Geländer, nicht viel breiter als seine Schultern. Ein alter Kunstfaserteppich klebte noch auf den Stufen.
    Jenssen schaute die Treppe hinauf. Sie war steil und nicht länger als drei Meter. »Hier?«, fragte er.
    Henry stieg an ihm vorbei die Treppe empor und drehte sich zu ihm um. »Mein Vater blieb genau dort liegen, wo Sie jetzt stehen.« Jenssen leuchtete ihn von unten an. Sobald er den Lichtstrahl bewegte, verschwanden Henrys Umrisse.
    Â»Das haben Sie gesehen?«
    Â»Ich stand ja genau hier oben.«
    Jenssen ließ das Licht die Treppe auf und ab wandern. »Das war am selben Tag, als Ihre Mutter verschwand?«
    Â»Wie gesagt, ich habe lange, lange Zeit geglaubt, meine Mutter sei einfach fortgegangen, um woanders zu leben. Ich habe auf sie gewartet. Hier in diesem Haus. Aber sie kam nie zurück, sie gab kein Zeichen mehr. Das ist über dreißig Jahre her.«
    Jenssen stieg die Treppe hoch. »Sie haben gesagt, Sie standen oben an der Treppe. Warum standen Sie oben?«
    Â»Mein Zimmer ist hier oben. Kommen Sie.«
    Henry öffnete eine kleine Tür. Jenssen stellte sich neben ihn und leuchtete hinein. Der Fußboden war intakt. Das Kinderbett stand unter einem mit Brettern vernagelten Fenster. Die Bettwäsche darauf war ordentlich bezogen und schwarz vor Schimmel und Mäusekot. »Mein Vater kam hoch, um mich zu suchen. Aber ich hatte mich versteckt.«
    Â»Wo?«
    Â»Unter dem Bett.«
    Â»Warum?«
    Â»Er war sehr wütend und enttäuscht von mir. Er zog mich also unter dem Bett hervor und fragte mich, ob ich wisse, dass ich ein Hurensohn sei.«
    Â»Ein Hurensohn?«
    Â»Ja, ein Hurensohn.«
    Â»Was haben Sie geantwortet?«
    Henry lachte. »Ich war, wie gesagt, neun Jahre alt. Mit neun weiß man nicht, was das ist. Ich konnte mir denken, dass es was Schlimmes war. Mein Vater hat es mir erklärt. Henry, hat er ganz leise und freundlich gesagt, du bist ein Hurensohn, weil du der Sohn einer Hure bist. Du bist nicht mein Kind. Das leuchtete mir sofort ein.«
    Jenssen kratzte sich hinter dem Ohr. »Denken Sie das heute immer noch?«
    Â»Natürlich nicht. Heute verstehe ich, dass er wütend auf mich war, denn ich war ja nicht sein Kind, und diese Entdeckung war sicher schmerzlich für ihn. Aber das wusste ich damals noch nicht.«
    Â»Dennoch nennen Sie ihn Vater.«
    Â»Ich habe keinen anderen.«
    Â»Warum kam er in Ihr Zimmer in dieser Nacht?«
    Â»Er kam, um mich zu holen. Er zog mich bis zur Treppe. Ich hielt mich am Treppengeländer fest, er hat mit aller Kraft gezerrt, da ist mein Pyjama gerissen, er war ja vollkommen nass, weil ich ins Bett gemacht hatte. Er verlor das Gleichgewicht, und dann ist er die Treppe runter. Für immer.«
    Â»Was taten Sie?«
    Henry lachte. »Ich ging wieder ins Bett. Wollen Sie noch den Keller sehen?«
    Als sie sich den Weg durch den Garten zur Straße bahnten, blieb Jenssen nochmals stehen. Er setzte den Fuß auf einen der überwachsenen Erdhügel. »Was ist das?«
    Henry wischte sich Staub und Kletten vom Ärmel. »Löcher. Ich hab alles umgegraben, überall nach ihr gesucht. Aber ich habe meine Mutter niemals gefunden.«
    Sie erreichten den Parkplatz vor dem Friedhof nach Einbruch der Dunkelheit. Eine Weile saßen sie wortlos nebeneinander, dann öffnete Jenssen die Tür. »Herr Hayden, wissen Sie, wo Betty Hansen jetzt ist?«
    Â»Wenn ich das wüsste, wäre ich nicht hier.«
    Â»Wo wären Sie dann?«
    Â»Bei meiner Frau zu Hause.«
    * * *
    Henry Hayden verschwand spurlos, bevor der Roman er schien. Das Buch wurde wider Erwarten kein Bestseller. Kritiker schrieben, das Ende sei verstörend und fremdartig. Ein Jahr nach Haydens Verschwinden erhielt Obradin Basarić eine Postkarte von einem Unbekannten, auf der in feiner Schrift mit brauner Tinte geschrieben stand:
    Besser immer allein als nie.
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