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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen
Autoren: Sascha Arango
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erkannte sofort das Schriftbild von Marthas Schreibmaschine.
    Â»Es war ein sehr seltsames Gefühl, das hier zu lesen, Henry.«
    Sie reichte Henry die Seiten. Henry saß mit glühenden Ohren im Eames Chair festgepresst. Es fühlte sich an, als sei ihm ein heißes, nasses Tuch ins Gesicht gedrückt worden. Auf der ersten Seite war eine von Marthas Hand geschriebene … wie soll man sagen? … Notiz.
    Lieber Henry, geliebter Mann , ich rette dich und dieses Ende, weil ich niemals ertragen könnte, dich so ohne alles gehen zu lassen. Ich weiß nicht, was geschehen ist und heute geschehen wird, aber die hellen Farben, die seit dem ersten Tag unserer Begegnung aus dir leuchteten, sind nun von granitschwarzem Monochrom. Ich fürchte um dich.
    An dieser Stelle müssen wir kurz innehalten, weil Henry so schluchzte, dass er beim besten Willen nicht weiterlesen konnte.
    Was auch immer dich antreibt, zu verderben, was du liebst, ich fühlte mich von deiner Raserei stets ausgenommen. Du beschützt mich, du verstehst mich, du lässt mich sein. Dieses schöne Ende deines Romans hast du weggeworfen, um deinem Dämon zu dunkler Verabredung zu folgen. Ich trage es dir nach, ich hebe es für dich auf und sende es an Moreany. In zärtlichster Verbundenheit, Martha.
    Man macht sich oft falsche Vorstellungen von Dingen, die man noch nie erlebt hat. Wenn man sie schließlich erlebt, sind sie oft von überraschender Vertrautheit. Honor hatte noch keinen erwachsenen Mann weinen sehen. Henry weinte lange und ausgiebig, wie ein Kind, das nach der Mutter ruft. Hätte Honor ihm nicht sanft das Manuskript entzogen, er hätte es zu einem Aquarell verheult. Sie ließ ihn allein und schloss die Tür von Moreanys Büro hinter sich.
    Als sie zu später Stunde der vorvergangenen Nacht das letzte Kapitel zwischen Moreanys ungeöffneter Post gefunden hatte, dachte sie zuerst an einen Irrtum, zumal Marthas Schreiben nur an Henry gerichtet war. Auf dem Kuvert aber hatte Martha in ihrer feinen Handschrift Moreanys Privatadresse eingetragen. Es konnte kein Irrtum sein. Für Honors esoterisch erweiterten Intellekt war der Zusammenhang zwischen Marthas Verschwinden und diesem liebevoll sinistren Abschiedsbrief unabweisbar. Martha schrieb von Verderben und Henrys dunkler Verabredung mit dem Dämon, ihr Schreiben hatte etwas Beunruhigendes. Honor hätte die Polizei verständigt, wenn sie nicht Leiterin eines Verlages gewesen wäre, und Henry Hayden sein goldener Abgott. Das abschließende Kapitel des Romans war ein Barscheck und hatte somit Priorität über moralische Bedenken. Deshalb konsultierte Honor Moreany, geborene Eisendraht, statt der Polizei die Arkana des Tarot. Es fiel die elfte Karte, die Gerechtigkeit. Na, bitte. Manche Zweifel beseitigen sich von selbst.
    * * *
    Es mag Beerdigungen geben, wo Trauergäste falsche Demut und Betroffenheit zur Schau stellen. Schuld an dieser bigotten Verstellung hat nicht selten der Tote, dessen Umgang zu Lebzeiten wohl nicht der beste war, er kannte einfach die falschen Leute. Claus Moreany wurde beerdigt, wie er gelebt hatte. Mit Respekt, ohne Pathos und begleitet von ehrlichen Tränen. Viele Menschen hatten sich an diesem wolkenschweren Tag im Frühherbst auf dem kleinen Friedhof versammelt. Etwa dreihundert Personen standen entlang des Weges von der Kapelle zum Mausoleum, viele unter ihnen ohne Regenschirm. Der Sarg wurde zwischen ihnen hindurch getragen, und in diesem Moment begann es zu regnen.
    In Sichtweite sah Henry Jenssen und ein paar Herren von der Polizei stehen. Sie waren die Einzigen, die nicht dunkel gekleidet waren, was darauf schließen ließ, dass sie dienstlich gekommen waren. Warum nicht?, dachte er. Heute ist ein guter Tag, um über den Tod zu sprechen. Zwischen ein paar alten Platanen stand Gisbert Fasch. Schüchtern winkte er mit einer Krücke, als sich ihre Blicke trafen. Er hatte sichtlich zugenommen, und das Haar war an der rasierten Kopfseite nachgewachsen. Etwa eine Stunde verging, bis die letzten Trauergäste ihre Blumen vor dem Sarg abgelegt hatten, dann bewegte sich der Zug Richtung Friedhofsausgang, wo die Fahrzeugkolonne des Shuttleservice darauf wartete, die Gäste zum Leichenschmaus ins Verlagsgebäude zu transportieren.
    Â»Wir haben Ihre Frau gefunden«, raunte Jenssen Henry zu, als er an ihm vorbeiging. Die Pietätlosigkeit dieser Begrüßung wurde Jenssen wohl im
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