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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen
Autoren: Sascha Arango
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nicht mehr so entsetzlich schämen. Es musste sein. Wahrheit vor Schönheit, alles Weitere würde sich ergeben.
    Er umfasste Bettys schlanke Taille. Im Gras lag ein Stein, groß und schwer genug, einen tödlichen Schlag auszuführen. Er musste sich nur bücken, um ihn aufzuheben.
    Â»Komm, steig ein.«
    Er setzte sich ans Steuer, startete den Motor. Statt vorwärts über die Klippen zu rasen, legte er den Rückwärtsgang ein und ließ den Subaru langsam zurückrollen. Ein großer Fehler, wie er später fand.
    * * *
    Der schmale Weg aus gelochten Betonplatten wand sich kaum sichtbar durch einen dichten Kiefernhain von den Klippen bis zum Forstweg, wo sein Wagen stand, verdeckt von tief hängenden Ästen. Betty kurbelte das Seitenfenster herunter, zündete sich die nächste Mentholzigarette an, atmete den Rauch ein.
    Â»Sie wird sich doch nichts antun, oder?«
    Â»Das will ich nicht hoffen.«
    Â»Wie wird sie reagieren? Wirst du ihr sagen, dass ich es bin?«
    Dass du was bist?,wollte Henry fragen.
    Â»Ich sag’s ihr, wenn sie mich danach fragt«, antwortete er stattdessen.
    Natürlich würde Martha fragen. Jeder Mensch, der er fährt, dass man ihn methodisch hintergangen hat, will wissen, warum, wie lange und mit wem. Das ist normal. Betrug ist ein Rätsel, das wir lösen wollen.
    Betty legte Henry ihre Hand mit der brennenden Zigarette auf den Schenkel. »Schatz, wir haben doch aufgepasst. Ich meine, wir wollten doch beide kein Kind, oder?«
    Henrys Zustimmung konnte nicht größer und tief empfundener sein. Nein, er wollte kein Kind und besonders nicht von Betty. Sie war seine Geliebte, würde niemals eine gute Mutter werden, hatte überhaupt nicht das Herz dazu, dafür war sie viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Ein gemeinsames Kind würde ihr Macht über ihn verleihen, sie würde seine Tarnung niederreißen und Druck auf ihn ausüben bis zur letzten Konsequenz. Seit Längerem schon hatte er mit dem Gedanken gespielt, sich sterilisieren zu lassen, aber etwas Unbestimmbares hatte ihn davon abgehalten. Vielleicht war es der Wunsch, doch noch ein Kind mit Martha zu haben.
    Â»Es hat irgendwie entstehen wollen«, sagte er.
    Betty lächelte, ihre Lippen zitterten. Henry hatte den richtigen Ton getroffen.
    Â»Ich glaube, es wird ein Mädchen.«
    Sie stiegen aus, tauschten wieder die Plätze. Betty setzte sich hinter das Steuer, zog einen Schuh an, trat mechanisch auf die Kupplung und bewegte den Schaltknüppel hin und her.
    Er freut sich nicht, dachte sie. Aber war es nicht ein wenig viel verlangt von einem Mann, der gerade beschlossen hat, sein Leben zu ändern und seine Ehe zu beenden? Betty wusste trotz der jahrelangen Affäre mit ihm recht wenig über Henry, soviel aber wusste sie: Henry war kein Familienmann.
    Sie kann es nicht abwarten, dachte er. Sie kann nicht warten, dass ich alles für sie aufgebe. Er hatte indes nicht die Absicht, seine sorgenfreie Abgeschiedenheit gegen ein Familienleben zu tauschen, für das er nicht geschaffen war. Nach der großen Beichte bei seiner Frau musste eine neue Identität her. Es würde viel Arbeit machen, sich einen anderen Henry auszudenken, einen Henry nur für Betty. Allein der Gedanke daran machte ihn müde.
    Â»Kann ich irgendwas tun?«
    Henry nickte. »Hör mit dem Rauchen auf.«
    Betty sog an der Zigarette, schnippte sie weg. »Es wird schrecklich.«
    Â»Ja. Es wird schrecklich. Ich rufe dich an, wenn’s vorbei ist.«
    Sie legte den Gang ein. »Wie weit bist du mit dem Roman?«
    Â»Fehlt nicht mehr viel.«
    Er beugte sich zu ihr in die offene Tür. »Hast du irgendwem was gesagt von uns?«
    Â»Absolut niemandem«, erwiderte sie.
    Â»Das Kind ist von mir, nicht wahr? Ich meine, es ist wirklich da, es wird kommen?«
    Â»Ja. Es ist von dir. Es wird kommen.«
    Sie streckte ihm die leicht geöffneten Lippen zum Kuss entgegen. Widerstrebend beugte er sich zu ihr, ihre Zunge drang in seinen Mund wie eine dicke, gewindelose Schraube. Henry schloss die Fahrertür des Subaru. Sie fuhr den Forstweg hinunter Richtung Landstraße. Er schaute ihr nach, bis sie verschwunden war. Dann trat er ihre halb gerauchte Zigarette aus, die noch brennend im Gras lag. Er glaubte ihr. Betty würde ihn nicht anlügen, weil sie dafür viel zu phantasielos war. Sie war jung und sportlich, viel eleganter als Martha,
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