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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen
Autoren: Sascha Arango
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Zerfall war sicherlich um einiges weiter fortgeschritten als der von der dicken Wasserleiche, die Henry in der Gerichtsmedizin gesehen hatte. Den Sturm als Unglücksursache schloss das wohl aus.
    Henry rechnete nicht damit, dass man ihn schnell vom Tod seiner Frau informieren würde. Bekanntlich sucht die Polizei zuerst nach der plausibelsten Erklärung, um eine Strategie der Aufklärung zu entwickeln. Jedem Verbrechen liegt eine Matrix unsichtbarer Zusammenhänge zugrunde, aber den Schlüssel zu Motiv und Ablauf hat allein der Täter. Die Suche nach einer vollkommen einleuchtenden Erklärung würde ein Weilchen dauern und bestimmt zu nichts führen, denn Marthas Tod in Bettys Wagen war schlicht ein Missgeschick gewesen, eine unglückliche Verkettung von Umständen. So ein »Missgeschick« entzieht sich jeder logischen Kausalität. Eine Menge Überstunden würden anschließend mit Herumgerätsele vertrödelt werden, in der Folge Frustration und Ärger sich ausbreiten. Erst dann würden die Ermittler zu Henry kommen, um ihn nach dem Kostbarsten zu befragen, das es bei der Wahrheitsfindung gibt: dem Täterwissen. Nur Henry allein konnte alles aufklären, und nur er allein war nicht bereit dazu. So gesehen hatte Henry genügend Zeit, sich vorzubereiten. Er nahm sich vor, eine altbewährte Taktik anzuwenden, mit der man sich die meisten Scherereien vom Hals hält, und sich auf kluge Art dumm zu stellen.
    Die folgenden Tage verbrachte Henry mit Aufräumarbeiten in seinem Garten. Wie er vorausgesehen hatte, geschah nichts. Er ließ den Schaden an seinem Haus schätzen, unterrichtete die Versicherung und nahm Kontakt zu einem Architekten auf. Dann starb Moreany.
    Claus Moreany starb in einem Krankenhaus in Venedig. Am Krankenbett heiratete er zuvor seine Sekretärin Honor Eisendraht und vermachte ihr den Verlag und seinen gesamten Privatbesitz. Sie ließ den Leichnam überführen und seine Grabstätte im Mausoleum der Familie Moreany vorbereiten. Die Beerdigung sollte eine Woche nach seinem Tod im Kreis seiner Mitarbeiter, Freunde und Autoren stattfinden. In der Zwischenzeit übernahm Honor Moreany kommissarisch die Leitung des Verlags, bis alle rechtlichen Erbangelegenheiten geregelt waren. Sie führte die Geschäfte weiterhin von ihrem Drachenbaum-Vorzimmer aus, wo der Bisley mit den vertraulichen Unterlagen stand, ohne die kein Mensch einen Verlag führen kann. Unverzüglich löste sie ihre kleine Wohnung auf und zog mit dem Sittich in die Villa ihres verstorbenen Mannes, wo sie zuerst einen Kammerjäger die Speisekammer entseuchen ließ. Weil sie eine ordnungsliebende Person war, begann sie umgehend mit dem Sortieren der turmhohen Stapel an ungeöffneter Post, die sich wie Stalagmiten in seinem Arbeitszimmer erhoben. Sie sortierte zuerst nach Eingangsdatum und öffnete dann nach und nach alle Kuverts mit einem aztekischen Opfermesser, das sie in seinem schlichten Roentgen-Sekretär fand.
    Zwei Tage vor der Beerdigung erschien Henry Hayden im Verlag. Er trug einen dunklen Anzug. Zur Begrüßung küsste er Honors Hand und bot ihr das »Du« an. Sie tranken Gunpowder-Tee und sprachen eine Weile über den Verstorbenen. Honor berichtete, wie sie gemeinsam seine letzten Tage in der Lagunenstadt verbracht hatten, bis er ihr nach dem Versagen seiner Leber einen Heiratsantrag im Ospedale Giovanni e Paolo machte. Henry saß in Moreanys Eames Chair und hörte ergriffen zu. Er schämte sich, seinen Freund und Gönner Moreany nicht noch ein letztes Mal gesehen zu haben.
    Ho nor legte ihre Hand auf seine. »Es war so wenig Zeit, und so viele schreckliche Dinge sind geschehen, Henry. Dinge, die man nicht begreifen kann. Das größte Geschenk für ihn war dein Roman, den wir wiedergefunden haben.«
    Â»Hast du ihn gelesen?«
    Honor nickte lächelnd. »Ich weiß, du wolltest das nicht. Claus hat ihn ausgedruckt und mit nach Venedig genommen. Wir haben ihn gemeinsam gelesen. Er ist groß, Henry. Das ist große Literatur.«
    Â»Und das Ende? Wie fandet ihr das Ende?«
    Eine längere Pause trat ein. »Das ist erstaunlich«, antwortete Honor schließlich, »ich fand es zufällig in der Post.«
    Sie stand auf und ging zu Moreanys Schreibtisch, öffnete eine Schublade und entnahm ihm ein braunes Kuvert. Sie zog einen halben Fingerbreit Papier heraus, mit Schreibmaschine geschrieben. Henry
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