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Das Haus in den Wolken

Titel: Das Haus in den Wolken
Autoren: Judith Lennox
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    A LS R ICHARD F INBOROUGH IM H ERBST 1909 auf der Fahrt durch Devon war, ließ ihn unversehens sein Automobil im Stich. Schlechtes Wetter war aufgezogen, seit er sich am frühen Nachmittag von seinen Freunden, den Colvilles, verabschiedet hatte, und er hegte schon eine ganze Weile den Verdacht, dass er auf dem Weg über Exmoor irgendwo falsch abgebogen war.
    Er lenkte den Wagen an den Straßenrand. Regen schlug ihm ins Gesicht, ein stürmischer Wind, der das welke Laub von den Bäumen fegte, zerrte an seinem Jackett und drohte, ihm den Hut vom Kopf zu reißen. Als er sich im schwindenden Licht den de Dion ansah, stellte er fest, dass hinten eine Blattfeder beschädigt war. Nur ungern gab er seinen ursprünglichen Plan auf, in Bristol zu übernachten, und machte sich auf die Suche nach einer näher gelegenen Unterkunft. Einige Kilometer weiter zeigte ein Wegweiser die Ortschaft Lynton an. Der Wagen schlingerte, als er in die Abzweigung einbog.
    In Lynton mietete er sich in einem Hotel ein. Am nächsten Morgen nach dem Frühstück ließ er den Wagen zur Reparatur in eine Schmiede bringen, während er selbst einen Rundgang durch den Ort machte, der hoch oben auf einem Felsen über dem Bristol Channel lag. Lynmouth, das Nachbardorf, kauerte unten am Wasser. Richard konnte von seinem Aussichtspunkt aus die schäumenden Wellen erkennen, die im anhaltenden Sturm wie wilde Horden weißer Pferde über das Meer jagten. Man nannte diesen Teil von Nord-Devon scherzhaft auch »die kleine Schweiz«, was ihn nicht wunderte: Die tiefen Einschnitte zwischen den Hügeln und das steile Auf und Ab der Fußwege, über denen sich die Häuser an schroffe Wände klammerten, waren beeindruckend.
    Er beschloss, nach Lynmouth hinunterzugehen. Der stürmische Wind und der abschüssige Weg geboten Aufmerksamkeit bei jedem Schritt. Unten im Dorf vereinigten sich zwei Bergbäche, die nach den schweren Regenfällen zu reißenden Flüssen voll Treibgut aus den bewaldeten Tälern angeschwollen waren, zu einem schäumenden Strom, ehe sie ins Meer mündeten. Niedrige Häuser drängten sich um den Hafen, und die Fischerboote lagen am Kai vertäut, vermutlich weil den Fischern das Wetter zum Hinausfahren zu schlecht war. Immer wieder gingen heftige Regenschauer nieder; wie ein Schwamm sog das Land das Wasser auf. Richard verfluchte den de Dion, der daran schuld war, dass er bei diesem Wetter hier festsaß, mitten in der Wildnis.
    Flatterndes Rot am äußersten Ende der Hafenmole zog seinen Blick auf sich, und bei genauerem Hinsehen konnte er im wogenden Grau und Braun des sturmbewegten Wassers eine Frauengestalt ausmachen. Sie stand zu Füßen eines trutzigen steinernen Turms auf der Mole, die den Hafen auf einer Seite mit schützendem Arm umfasste. Er hob die Hand über die Augen, um sie gegen den Regen abzuschirmen: Ein blauweißer Rock unter einer roten Jacke und langes schwarzes Haar, wie eine wehende Fahne im Wind. Der Sturm rüttelte an ihr, der Gischt sprühte hoch über ihr auf; nicht weit von ihr tobte das Wasser. Sie war zu nah am Rand – eine etwas stürmischere Welle würde genügen, sie in die See zu reißen. Es beunruhigte ihn, dass sie an so ungeschützter Stelle stand, und er war froh, als sie sich vom Wasser abwandte und zum Kai zurückging.
    Neugierig wartete er im Schutz einer Türnische. Als sie näher kam, sah er, dass sie völlig durchnässt war. Sie musste lange im Regen gestanden haben. Er lüftete den Hut, als sie an ihm vorüberging, und sie, erst jetzt auf ihn aufmerksam geworden, sah sich nach ihm um. Aber sogleich wandte sie sich wieder ab, so heftig, dass ihre nassen schwarzen Haare flogen, und hielt auf die Straße zu, die nach Lynton hinaufführte.

    In den darauffolgenden Tagen kam sie ihm mehrmals in den Sinn. Das schwarze Haar, die stolze Haltung, als sie in dem regenschweren langen Rock und der durchnässten roten Jacke an ihm vorübergegangen war. Wie eine Königin – eine rote Königin, dachte er.
    Der Sturm ließ nach, die Fischerboote fuhren wieder auf See hinaus. Der Himmel, über den Wolkenfetzen flogen, leuchtete in einem verwaschenen Graublau. Die Gullys waren verstopft, und weit oben am felsigen Ufer hatte sich ein breiter Streifen Strand- und Treibgut gesammelt.
    Das Hotel hatte um diese Zeit, außerhalb der Saison, kaum Gäste außer ihm. Im
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