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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen
Autoren: Sascha Arango
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– ist das der Titel?«
    Henry biss sich auf die Lippen, rieb sein Ohrläppchen zwischen den Fingern. »Vorläufig. Sie haben mein Leben gerettet, Honor«, frohlockte er, so gut es ging, »das sind wundervolle Nachrichten.« Mit einem Schulterblick sah Henry in die Scheune. Das Phantom war verschwunden.
    Â»Ich freue mich so für Sie, Henry. Ich lasse es gleich ausdrucken, wenn’s Ihnen recht ist.«
    Â»Nein!«, rief Henry, »warten Sie damit, bis ich komme.« Henry überlegte kurz. »Ich komme heute Abend in den Ver lag. Sobald ich meinen Besuch hier verabschiedet habe.« Honor machte eine kurze Pause. »Wollen Sie etwa bei dem Sturm fahren, Henry?«
    Â»Welcher Sturm?«
    * * *
    Die Tasche bewegte sich. Behutsam zog Jenssen an dem Ästchen, dessen gekrümmte Spitze sich im Messingbeschlag verhakt hatte. Der Schweiß rann ihm in die Augen. Eine äußerst seltene Eidechse kletterte über die Steine, ohne Jenssens Beachtung zu finden. Dann riss das Ästchen. »Fuck!«, brüllte Jenssen aus Leibeskräften, »fuck fuck fuck!« Der Polizist warf das gerissene Stück in den Spalt und schlug mit der Faust auf den Stein. Eine Viertelstunde hatte er gebraucht, um dieses zähe Stück Holz aus dem Wurzelwerk des Strauches zu drehen. Obgleich es längst tot war, hatte er sich mit allen verdorrten Fasern gewehrt – um nun zu reißen wie Zuckerwatte.
    Jenssen zog sein Hemd aus und spürte die kalte Luft, die vom Meer kam. Dunkle Wolkengebirge türmten sich am Horizont auf. Er presste sich erneut an den sandigen Fels, schob wieder die Hand in den Spalt, atmete aus, um einen Zentimeter zu gewinnen, umfasste den Henkel und zog die Tasche aus dem Spalt. Es war eine Damenhandtasche aus Kunstleder. Ihr Inhalt war vollständig verrottet, tote Insekten regneten heraus und zerfielen im Wind zu Pulver.
    Henry schraubte den Kanister auf und goss einen halben Liter Super 98 Oktan in die Tasche mit Gisbert Faschs Dokumenten. Er verschloss den Kanister wieder, stellte ihn ab, rieb ein Streichholz an, der Wind blies es aus. Erst das vierte Streichholz brannte. Mit einem dumpfen Knall entflammte die Tasche und stieß eine schwarze Wolke aus. Er schaute zu, bis das Leder schwarz wurde, Windstöße ließen das Feuer fauchen. Der Hund war aus seinem Bahnwärterschlaf erwacht und hetzte unruhig hin und her, bellte den Wind an.
    Die Brombeerbüsche bogen sich nun bis zur Erde, Wolken rasten über das Dach hinweg, Henry sah, dass die Dachfenster offen standen, der Sturm würde das Zerstörungswerk zu Ende bringen, das er begonnen hatte. Ahnst du, wie es endet? , war Marthas letzte Botschaft an ihn gewesen, eine Warnung und genau genommen eine Vision, dass alles, was begonnen wird, auch irgendwie zu Ende gebracht werden muss.
    * * *
    Nach der verheerenden Sturmflut im Januar vor fünfzehn Jahren war der Katastrophenschutz kontinuierlich verbessert worden. Damals hatte der Orkan den Ort in planloser Lethargie getroffen, hob zuerst die Fischkutter aus dem Hafenbecken, wirbelte sie durcheinander und türmte sie zu grotesken Abfallhaufen. Er mähte die historischen Häuser am Hafen nieder, pflückte Kastanienbäume vor dem Gemeindehaus wie Butterblumen. Nachdrängende Wassermassen, die der Sturm als Leichentuch hinter sich durch den Ort zog, pflügten die Straßen um und rissen die Grabsteine vom kleinen Friedhof mit.
    Mit Spanplatten wurden die letzten Fenster der Hauptstraße abgedeckt, als Henry in den Ort gefahren kam. Zwei Stunden vor Sonnenuntergang war es bereits dunkel. Heftiger Regen hatte eingesetzt mit Windböen der Stärke sieben bis acht. Männer auf Lastwagen mussten sich festhalten, als sie Sandsäcke vor die Hauseingänge warfen. Henry hielt an der Straßensperre, wo Bürgermeisterin Elenor Reens in der Uniform der Freiwilligen Feuerwehr stand. Er ließ sein Fenster ein Stück weit herunter, Regen sprühte ihm ins Gesicht.
    Â»Braucht ihr Hilfe?«
    Â»Wir brauchen jeden Mann.« Elenor deutete die Straße hinunter. »Helfen Sie Obradins Frau, die Fenster dichtzumachen.«
    Â»Wo ist Sonja?«
    Â»Sie ist zu jung für Sie.« Elenor klopfte auf das Wagendach und winkte ihn durch.
    Helga kämpfte allein vor dem Fenster des Fischladens. Sie war klein, ihre Arme zu kurz und zu schwach, um die schweren Spanplatten vor dem Schaufenster in die richtige Position zu bringen. Henry
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