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Die Gilden von Morenia 03 - Die Wanderjahre der Glasmalerin

Titel: Die Gilden von Morenia 03 - Die Wanderjahre der Glasmalerin
Autoren: Mindy L. Klasky
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    Rani Händlerin schaute durch die Glasscheiben. Sie war dankbar, dass sich die Windrichtung geändert hatte, wodurch ihr für eine kurze Weile der Gestank von verbranntem Holz und geschmolzenem Stein von der unter ihrem Turmraum liegenden Stadt erspart blieb. Sie ermahnte sich in Gedanken, sich nicht aus dem Fenster zu lehnen und nicht in den Palasthof zu blicken, um die sich dort in ihren Behelfszelten zusammenkauernden Flüchtlinge nicht zu sehen. Rani atmete tief ein und bekämpfte den Drang, sich abzuwenden, die Augen zu schließen, alle Gedanken an das Feuer abzuwehren, das sich durch Moren gefressen hatte.
    Niemand wusste, wie das Feuer begonnen hatte. Es gab Gerüchte darüber, dass es bei einer Rauferei in einer Schenke, mitten im Soldatenviertel, entstanden sei. Einige sagten, es sei bei einem unbeaufsichtigten Feuer im Händlerviertel, am Stand eines Wurstmachers, ausgebrochen. Andere sagten, dass es im Gildeviertel entstanden sei oder bei den obdachlosen, umherstreifenden Unberührbaren.
    Rani kümmerte es nicht, wie das Feuer begonnen hatte. Es berührte sie nur, dass die kleinen Flammen vom Frühlingswind angefacht wurden. Das Feuer hatte sich an wintertrockenem Holz genährt, ganze Straßen der Stadt verschlungen. Gute Menschen waren bei dem Versuch gestorben, ihre Familien zu retten, und wertvolle Handelsgüter waren im Rauch entschwunden.
    Letztendlich wurde das Feuer nur durch ein von Davin, einem von König Halaravillis Gefolgsleuten, geschaffenes Versuchsgerät aufgehalten. Dieses wuchtige Gerät, das für den Krieg bestimmt war, rettete einigen Morenianern das Leben, indem es Gebäude mit Sprengladungen niederriss, Holz und Lehm und Flechtwerk zum Einsturz brachte, so dass das Feuer nichts mehr zu verschlingen vorfand und nirgendwohin mehr ausweichen konnte. Vielleicht hätte nicht einmal Davins Schöpfung genügt, wäre nicht nach dreitägigem Feuer ein heftiges Unwetter durch die geschwärzten und verkohlten Straßen gefegt.
    Moren war kampfunfähig und beinahe tödlich verwundet. Die Stadt stand einem neuen Jahr und alten Schrecken gegenüber – Hunger, frostige Kälte, Wahnsinn. Die Pilgerglocke läutete, während sich Flüchtlinge im Palasthof, auf den geschwärzten Steinplatten des alten Marktplatzes, in baufälligen Eingängen und gefährdeten Gebäuden zusammenkauerten. Kinder waren krank, und die Bader, die sich um die Überlebenden kümmerten, stellten eine neue Krankheit fest – die Feuerlunge. Die Krankheit wurde zunächst durch das Einatmen erhitzter Luft oder von zu viel Ruß bewirkt, aber dann breitete sie sich auf andere aus, auf Menschen, die erschöpft und ohne Hoffnung waren. Die Feuerlunge war tödlich, wenn ihre Opfer nicht Ruhe und Wärme und gutes, nahrhaftes Essen erhielten. Häufig führte sie sogar zum Tode, wenn die Patienten versorgt wurden.
    Die einzige Gnade der Tausend Götter bestand darin, dass die Kathedrale verschont geblieben war. Die Kathedrale und das Adligenviertel sowie das Palastgelände. Moren hatte die Mittel zum Wiederaufbau – vorausgesetzt, die Stadt fand den Mut dazu.
    Rani wandte den Kopf ab, schloss die Fensterläden und kehrte wieder zu dem dicken Wälzer auf ihrem gekalkten Tisch zurück. DIE PFLICHT EINES GESELLEN, las sie. Die Buchstaben waren stark verschnörkelt, die Pergamentseiten mit prächtigen Illustrationen von Glasmalergesellen umrahmt, die Glas gossen, Formen schnitten und hübsche Fenster gestalteten.
    Das Buch war das neueste in ihrer Sammlung. Davin hatte es ihr geschenkt. Der alte Mann hatte es keuchend vor Anstrengung den ganzen Weg bis zu Ranis Turm geschleppt. Er hatte auf das schwere Pergament zu Beginn des Textes gedeutet und sie auf die wunderschön gestalteten Seiten aufmerksam gemacht. »Lies es, Mädchen. Lies es, damit du in deinem Beruf weiterkommst.«
    Sie hatte sich über seinen scharfen Tonfall geärgert, aber sie hatte schon lange gelernt, ihre Erwiderungen gegenüber dem alten Erfinder hinunterzuschlucken. Stattdessen hatte sie eine Lampe herangerückt und die Worte auf der Seite entziffert:

    DIE PFLICHT EINES GESELLEN. Ein Glasmalergeselle soll alles in seiner Lehre erlernte Können zeigen. Er soll beim Glasgießen Wissen zeigen. Er soll beim Glasschneiden Wissen zeigen. Er soll beim Glasgestalten Wissen zeigen. Er soll Lehrlinge in ihrer Ausbildung führen und anleiten. Er soll den Meistern gegenüber Gehorsam zeigen. Er soll einen Viertel Anteil all seiner weltlichen Güter an seinen König leisten. Erst
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