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Seelengift

Titel: Seelengift
Autoren: Veronika Rusch
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PROLOG
    Entsetzt starrte er den Mann an, der vor der Haustür stand und auf den Klingelknopf drückte. In der letzten Zeit hatte er ihn zunehmend aus den Augen verloren. Nicht mehr so auf ihn geachtet, wie er es hätte tun müssen. Blanker Hohn war es, dass er ihn hier wiedersah. Natürlich hier. Wo sonst? Es war so klar, so einfach. Und er hatte es nicht gesehen. Verachtung stieg in ihm auf. Wie hatte er nur so nachlässig, so blind sein können? Er presste seine Lippen zusammen und wartete darauf, dass dem Mann geöffnet wurde.
    Als das Licht im Treppenhaus anging, zog er sich weiter in den Schatten der hohen Buche zurück, um nicht gesehen zu werden. Das wäre das Schlimmste. Wenn sie ihn hier entdecken würde. Seine Finger krampften sich um das kleine Päckchen, das er in den Händen hielt. Jetzt ging die Tür auf, und er konnte sie sehen. Sie hatte sich fein gemacht, trug einen schwingenden, schwarzen Rock aus leichtem Stoff, der knapp bis unter die Knie reichte, und eine tief ausgeschnittene Bluse. Schimmernde Strümpfe, hochhackige Schuhe. Für ihn hatte sie sich noch nie so angezogen. Natürlich nicht. Warum auch? Er verzog den Mund. Wie hatte er nur glauben können …, wie hatte er nur annehmen können …? Seine Hände umklammerten das Päckchen immer fester, und er konnte hören, wie das Papier riss. Ein hübsches Papier hatte er gekauft, mit Flugzeugen darauf. Genau das Richtige für einen kleinen Jungen. Er hatte ganz lange in dem Schreibwarengeschäft gestanden
und die vielen Bogen Geschenkpapier studiert, die dort auf den silbernen Bügeln hingen. Fast nur Mädchensachen: rosa, mit Bärchen und Blümchen und Mäuschen und Kätzchen. Er hatte den Kopf geschüttelt. Immer und immer wieder. Nein. Das war alles nicht das Richtige. Eine Verkäuferin hatte sich ihm genähert, und er hatte sich schnell weggedreht, damit sie ihm keine dieser Fragen stellen konnte: Was wünschen Sie? Kann ich Ihnen helfen? Nein danke. Er konnte sich schon selber helfen. Am Ende hatte er dann das Richtige gefunden, unter Glitzerpapier mit Schafen versteckt: einen dunkelblauen Bogen festen Papiers mit Flugzeugen darauf. Keine kindischen, knuffigen Babyflieger mit Augen und einer Nase statt eines Propellers, sondern naturgetreue Doppeldecker in Rot, Gelb und Grün. Keine Wölkchen, keine Sterne. Nur die Flieger, fein gezeichnet, auf nachthimmelblauem Grund. Er hatte eine grüne Schleife dazu gekauft, aus Stoff, genau einen Zentimeter breit. Für so etwas hatte er ein Auge. Zu Hause hatte er das Band noch einmal nachgemessen. Es stimmte genau: einen Zentimeter breit. Dann hatte er das Geschenk eingepackt. Sorgfältig und ohne einen Streifen Tesafilm.
     
    Sie umarmten sich nicht. Ein höfliches Händeschütteln, ein wenig distanziert, wie er sofort bemerkte. Und er, er schien verlegen, wahrscheinlich ärgerte er sich, dass er keine Blumen mitgebracht hatte, wusste nicht, wohin mit seiner linken Hand. Er konnte sehen, wie er nervös am Saum seiner Jacke zupfte. Trotzdem: Sie hatte sich hübsch gemacht, hatte ihn erwartet. Sie waren verabredet. Bittere Galle stieg in ihm hoch, und er schluckte heftig. Jetzt bat sie ihn herein, mit einer offenen, einladenden Geste. Und dann, für einen winzigen Augenblick, ruhte ihre Hand auf seinem Rücken.
Eine vertraute Geste, die ihn mitten ins Herz traf. Er senkte hastig den Blick auf seine Schuhspitzen, als habe er etwas Obszönes gesehen. Als er den Kopf wieder hob, war die Tür geschlossen.
     
    Es war bitterkalt in dieser Nacht. Mindestens 15 Grad unter null. Und obwohl es schon Anfang Februar war, lag nirgendwo auch nur ein Stäubchen Schnee. Nackt und kahl ragten die Äste der Bäume in den sternenklaren Himmel. In solchen Winternächten begriff man erst wirklich, dass es da oben nichts anderes gab als die eisige, unendliche Leere des Weltalls. Es gab kein Himmelszelt wie in dem Schlaflied für Kinder, kein Dach, das sich über einem wölbte, keinen Schutz. Es gab nichts.
    Er spürte die Kälte jedoch kaum. Seine Augen waren auf die beiden leuchtenden Vierecke im ersten Stock des Hauses gegenüber geheftet, in der Hoffnung, irgendetwas zu erkennen. Silhouetten der beiden Menschen, die jetzt dort oben saßen und redeten. Er wusste genau, worüber sie sprachen. Er wusste es so genau, als säße er daneben. Sie sprachen über ihn. Über seine Dummheit. Seine grenzenlose Dummheit. Wahrscheinlich lachten sie sogar. Seine Finger, die noch immer um das Päckchen gekrampft waren, öffneten sich,
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