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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen
Autoren: Sascha Arango
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Wahrheit.«
    Â»In mir?«, schrie ihm Henry ins Gesicht. »In mir ist keine Wahrheit. Die Wahrheit haben die Fische gefressen, die Wahrheit ist im Ofen verbrannt, die Wahrheit ist Asche.« Henry wurde wieder ruhiger. »Sie halten mich für einen Mörder. Sie möchten mich gern zur Strecke bringen – und was tun Sie? Sie versuchen, mich zu verstehen. Wenn Sie jagen wollen, jagen Sie. Wenn Sie verstehen wollen, dann fangen Sie bei sich an. Aber ich sage Ihnen gleich, Sie werden keine Wahrheit finden.« Henry ging wieder zu seinem Wagen zurück. »Wer das Wild ruft, vertreibt es. Es kommt erst, wenn es sich sicher fühlt.«
    Henry stieg ein, ließ den Motor an. Jenssen legte seine breite Hand auf das Wagendach und beugte sich zu ihm herab.
    Â»Wo ist Ihre Mutter?«
    * * *
    Die Siedlung lag im Wachkoma des industriellen Verfalls, der mit der Schließung der großen Wellblechfabrik in den sieb ziger Jahren begonnen hatte. Die Nachmittagssonne beschien die westwärts gerichteten Fassaden der verbliebenen Wohnhäuser. Die meisten waren bereits aufgegeben worden, nur vereinzelt wuchsen noch brusthohe Hecken, und die Rasen der Vorgärten waren gemäht. Parallel zur Straße verlief das Gleis einer stillgelegten Schmalspurbahn und zog eine Grenzlinie zu verwilderten Äckern und Halden von Schutt und Abraum. Sauerampfer wuchs zwischen den Bohlen, vereinzelte Birken und wilder Wein.
    Das eiserne Zauntor mit der Nummer 25 war mit einem Vorhängeschloss gesichert. Hinter dem Zaun wucherten blühende Büsche, der Weg zum Haus war vollkommen zugewachsen. »Wenn Sie sich für Botanik interessieren, finden Sie hier bestimmt einiges«, sagte Henry, als er das Vorhängeschloss öffnete. »Sie haben nicht zufällig eine Machete dabei?«
    Jenssen bemerkte sofort, wie der neue Schlosszylinder schimmerte. Die Männer bahnten sich den Weg durch den Garten, zwischen den hohen Gräsern raschelte ein Tier. Jenssen fielen überwachsene Erdhaufen auf.
    Â»Da hinten lebte die Bestie.« Henry deutete auf einen niedrigen Verschlag zwischen Haselnussbüschen. Jenssen blieb stehen und beschattete die Augen mit der Hand, die Sonne stand um diese Tageszeit bereits merklich tiefer als zu ihrer ersten Begegnung im Mai. »Da drin hab ich gespielt, als ich klein war. Der Schuppen da war mein Palast. Die Schöne und das Biest, haben Sie’s gelesen?«
    Jenssen dachte kurz nach. »Ich hab nur den Film gesehen.«
    Henry arbeitete sich weiter zum Hauseingang vor, der mit massiven Spanplatten vernagelt war. Kletten blieben an seinem Beerdigungsanzug hängen, er beachtete sie nicht. »Raten Sie mal, wer ich war.«
    Â»Das Biest?«
    Henry lachte und zog einen Schlüssel an einer Kette aus der Tasche. »Hab ich mir fast gedacht, dass Sie das sagen würden. Die Schöne. Ich war die Schöne.«
    Jenssen wollte fragen, wer das Biest gewesen war, unterließ es aber. Auch das Schloss an der Spanplatte war neu. Henry schloss es auf und hob die Spanplatte von der Tür. Jenssen tastete nach der Heckler & Koch in seinem Gürtelholster und löste die Lasche über der Waffe. Die Haustür hatte deutliche Schlagspuren und war vertikal gespalten. Jenssen erkannte Reste eines verblichenen Polizeisiegels, das noch auf dem alten Schlüsselloch klebte.
    Henry schob die unverschlossene Tür auf. »Sie sind der erste Gast seit sehr langer Zeit. Willkommen zu Hause.«
    Durch die offene Tür fiel Sonne in den Eingangsbereich. Der Rest des Hauses lag im Dunkel, Jenssen zog seine LED-Stiftlampe aus der Innentasche seiner Jacke. An der Tür war der Estrich des Bodens noch intakt, doch drei Schritte weiter war der Boden aufgestemmt, nur noch Bohlen lagen auf Mauerresten und alten Eisenträgern.
    Â»Das Haus habe ich vor sieben Jahren gekauft. Es war Eigentum der Stadt, niemals mehr bewohnt worden und entsprechend billig. Wie die ganze Gegend hier.«
    Henry balancierte wie eine Katze über die Bohlen. »Passen Sie auf, wo Sie hintreten.«
    Jenssen leuchtete ins Dunkel zwischen den Bohlen. »Ist das da unten ein Keller?«
    Henry stand regungslos. »Der Heizungskeller. Nicht gemauert, sondern nur Lehm und Erde.«
    Jenssen leuchtete in eine kleine Küche, auch hier war der Boden bis unter den Herd aufgebrochen, bei jedem Schritt knackten kleine Insektenpanzer.
    Â»Wollen Sie die Treppe sehen?«, fragte Henry hinter ihm. Jenssen
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