Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir haben Sie irgendwie größer erwartet

Wir haben Sie irgendwie größer erwartet

Titel: Wir haben Sie irgendwie größer erwartet
Autoren: Tom Holt
Vom Netzwerk:
1. KAPITEL
     
    Nach einem besonders unergiebigen Gespräch mit seiner Geliebten fuhr Malcolm auf einer dunklen, kurvigen Landstraße mit dem Auto nach Hause und überrollte einen Dachs. Er hielt an und stieg aus, um den Lack und (in erster Linie aus Neugier) auch den Dachs auf Schäden hin zu untersuchen. Na, das hatte ihm gerade noch gefehlt! Im rechten Kotflügel war eine kleine, aber um so auffälligere Beule; dabei hatte er gehofft, den Wagen demnächst verkaufen zu können.
    »Verdammter Mist! So was mußte ja passieren!« fluchte er laut.
    »Und was, glauben Sie, ist mir passiert?« fragte der Dachs.
    Zu seiner eigenen Verwunderung drehte sich Malcolm nur langsam um. Zwar hatte er einen wirklich schlechten Tag hinter sich, der allerdings nicht so schlecht verlaufen war, daß er sprechenden Dachsen – sprechenden und toten Dachsen – mit Gelassenheit begegnen zu können glaubte. Das Tier lag völlig regungslos auf der Seite. Malcolm entspannte sich; er mußte sich alles eingebildet haben, oder durch den Zusammenprall war zufällig das Autoradio angegangen – bei dem undurchdringlichen Kabelsalat unter dem Armaturenbrett seines Wagens konnte es ja zu allen möglichen elektrischen Verbindungen kommen.
    »Schließlich sind Sie nicht von einem Auto überfahren worden«, beschwerte sich der Dachs verbittert.
    Dieses Mal reagierte Malcolm sehr viel schneller. Der schwarz-weiße Kadaver lag noch immer wie ein toter Zebrastreifen auf der Straße; dennoch hätte er schwören können, daß von ihm eine menschliche Stimme ausgegangen war. Wollte ihn etwa irgendein rustikaler Bauchredner – womöglich ein militanter Tierschützer – auf den Arm nehmen? Malcolm nahm seinen ganzen Mut zusammen, um das Opfer genauer in Augenschein zu nehmen. Ein toter Dachs, nicht mehr und nicht weniger – wenn man davon absah, daß man dem Tier um das hintere Ende der langen Schnauze ein komisches Drahtgeflecht gewickelt hatte – wahrscheinlich eine Art Zielsucheinrichtung, die von irgendwelchen Naturforschern angebracht worden war.
    »Haben Sie etwas gesagt?« erkundigte sich Malcolm nervös.
    »Also sind Sie doch nicht blind und taub«, seufzte der Dachs. »Ja, allerdings habe ich etwas gesagt. Warum hören Sie nicht genauer zu, wenn man mit Ihnen spricht?«
    Malcolm fühlte sich peinlich berührt. Sein geistiges Rüstzeug hielt kein Vokabular für Menschen parat, die er mit dem Auto gerade tödlich verletzt hatte, und erst recht keins für plattgefahrene Dachse. Nichtsdestotrotz hielt er es für seine Pflicht, etwas zu sagen, und ihm fiel nur die leere Redensart ein, die für solch unangenehme Situationen vorgesehen ist.
    »Tut mir leid«, murmelte er.
    »Es tut Ihnen also leid, ja? Ach, fahren Sie doch zur Hölle!« entgegnete der Dachs unwirsch.
    Es entstand ein Schweigen, das lediglich durch einen Eulenruf aus der Ferne unterbrochen wurde. Nach einer Weile kam Malcolm zu dem Schluß, daß der Dachs tot sein mußte und er sich selbst bei dem Zusammenstoß eine Gehirnerschütterung zugezogen hatte, ohne etwas davon bemerkt zu haben. Entweder das, oder es handelte sich um einen Traum. Wie er wußte, schliefen Menschen häufig am Steuer ein, und er erinnerte sich auch daran, daß so etwas zumeist tödlich ausging, was er in diesem Augenblick allerdings alles andere als ermutigend empfand.
    »Wie heißen Sie überhaupt?« wollte der Dachs wissen.
    »Malcolm. Malcolm Fisher.«
    »Können Sie das noch mal langsam wiederholen?«
    »Mal-colm Fi-sher.«
    Der Dachs schwieg. »Sind Sie sich auch ganz sicher?« hakte er schließlich ungläubig nach.
    »Ja«, beharrte Malcolm. »Was soll daran falsch sein?«
    »Nun, dann wollen wir Sie uns doch mal näher ansehen, Malcolm Fisher.« Der Dachs drehte unter Schmerzen den Kopf und musterte ihn von oben bis unten. »Ehrlich gesagt, habe ich einen sehr viel größeren Mann erwartet.«
    »Ach? Wirklich?«
    »Blond, groß, muskulös, athletisch gebaut, ohne Brille«, fuhr der Dachs fort. »Jünger, aber trotzdem reifer, falls Sie wissen, was ich meine. Jemand mit Ausstrahlung. Jemand, der einem sofort ins Auge sticht, wenn man in einen Raum voller fremder Menschen tritt. Offen gesagt, sind Sie eine ziemliche Enttäuschung für mich.«
    Auf solch starken Tobak gab es außer ›Tut mir leid‹ keine Antwort, was sich allerdings ziemlich dämlich angehört hätte, wie Malcolm meinte. Trotzdem war es ärgerlich, wenn man seine körperlichen Mängel gleich zweimal an ein und demselben Abend so unverhohlen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher