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Wir haben Sie irgendwie größer erwartet

Wir haben Sie irgendwie größer erwartet

Titel: Wir haben Sie irgendwie größer erwartet
Autoren: Tom Holt
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vorgehalten bekam, das eine Mal von einem schönen Mädchen und das andere Mal von einem sterbenden Dachs.
    »Und was soll das nun heißen?« fragte Malcolm schnippisch.
    »Na ja, tut mir fast ein wenig leid, was ich gesagt habe. Aber da Sie schon mal hier sind, können wir die Sache auch gleich hinter uns bringen. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob das nicht gemogelt war, mich mit diesem Ding zu überfahren«, antwortete der Dachs und winkte mit einer der erschlafften Pfoten zu Malcolms altem Renault hinüber.
    »Was können wir gleich hinter uns bringen?« wollte Malcolm wissen.
    »Ach, hören Sie endlich auf, mich auf den Arm zu nehmen! Sie haben mich bereits tödlich verwundet, also führen Sie mich nicht noch zusätzlich an der Nase herum. Jetzt nehmen Sie den Ring und den Tarnhelm, und verpissen Sie sich gefälligst!« zischte der Dachs wütend.
    »Ich kann überhaupt nicht mehr folgen. Wovon reden Sie überhaupt?«
    Der Dachs zuckte heftig zusammen, und sein Körper wurde von krampfartigen Schmerzen erfaßt. »Wollen Sie etwa behaupten, daß alles nur ein Zufall ist?« keuchte er. »Nach fast tausend Jahren nichts als ein verdammter Zufall! Phantastisch!« Das sterbende Tier gab ein schnaubendes Geräusch von sich, das sich wie ein geisterhaftes Lachen anhörte.
    »Jetzt kann ich überhaupt nicht mehr folgen«, grummelte Malcolm.
    »Dann würde ich mich lieber anstrengen«, fuhr der Dachs mit resignierter Stimme fort. »Es sei denn, Sie wollen unbedingt, daß ich Ihnen wegsterbe, bevor ich Ihnen die ganze Geschichte erzählen kann. Und jetzt nehmen Sie mir erst mal dieses Drahtgeflecht von der Schnauze.«
    Wie Malcolm wußte, besaßen Dachse ein kräftiges Gebiß, und er näherte sich dem Tier nur zögernd, da er fest damit rechnete, daß es nach seinen Fingern schnappen würde. Aber während er das Drahtgeflecht entfernte, verhielt sich die Kreatur völlig ruhig und friedlich. Plötzlich war der Dachs verschwunden, und an seiner Stelle lag da jetzt ein weit über zwei Meter großer Mann mit stahlblauen Augen, grauem Haar und einem zerzausten langen Bart.
    »Das ist schon besser. Furchtbar, aber als Dachs hat man überall Flöhe.«
    »Ich sollte Sie lieber ins Krankenhaus bringen«, schlug Malcolm vor.
    »Ach, vergessen Sie’s. Die Humanmedizin wirkt bei mir sowieso nicht«, winkte der Riese ab. »Mein Herz ist mein rechter Fuß, mein Rückgrat besteht aus Chalzedon, und meine Eingeweide lösen sich in Aspirin auf. Ich bin ein Riese, müssen Sie wissen. Tatsächlich bin oder war ich sogar der Letzte aller Riesen.«
    Wie ein Fernsehstar, der auf die Straße geht und darauf wartet, daß er von Passanten erkannt wird, legte der Riese eine kurze Kunstpause ein.
    »Wie meinen Sie das genau mit dem Riesen? Sie sind zwar sehr groß, aber …«
    Der Riese schloß die Augen und stöhnte leise.
    »Kommen Sie schon«, drängte Malcolm. »In Taunton gibt es eine Unfallklinik. Wir bräuchten nur vierzig Minuten.«
    Der Riese ging nicht darauf ein und sagte: »Da Sie von der Abstammung der Götter offenbar nicht einmal die leiseste Ahnung haben, werde ich es Ihnen genauer erklären müssen. Mein Name ist Ingolf, und ich bin der Letzte der Frost- und Reifriesen aus der Urzeit.«
    »Freut mich, Sie kennenzulernen«, antwortete Malcolm unwillkürlich.
    »Wer’s glaubt, wird selig. Jedenfalls bin ich der jüngste Bruder von Fasolt und Fafner, den beiden Burgenbauern. Klingelt’s jetzt endlich bei Ihnen? Nein?«
    »Nein.«
    »Kennen Sie denn nicht mal die Oper?« fragte Ingolf, der allmählich verzweifelte.
    »Ich bin leider kein großer Opernfan«, gestand Malcolm.
    »Ich glaub das einfach alles nicht! Aber egal, lassen Sie uns jetzt nicht näher darauf eingehen. Ich werde in etwa drei Minuten tot sein. Sobald Sie nach Hause kommen, suchen Sie in Ihrem ›Buch des Wissens‹ nach der Nibelungensage, oder schlagen Sie im Opernführer unter dem Ring des Nibelungen nach. Meine Geschichte beginnt mit dem dritten Aufzug, dritte Szene, der Götterdämmerung. Der Scheiterhaufen. Siegfrieds Leiche liegt ausgestreckt da. Am Gürtel die Tarnkappe. Am Finger den Ring der Nibelungen.« Ingolf hielt kurz inne. »Entschuldigung, aber langweile ich Sie etwa?«
    »Nein, überhaupt nicht«, versicherte ihm Malcolm. »Fahren Sie bitte fort.«
    »Hagen schnappt sich Siegfrieds Ring, während sich Brünnhilde ins Feuer stürzt. Plötzlich tritt der Rhein über die Ufer – ich hatte jahrelang vor der unzureichenden Uferbefestigung gewarnt,
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