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Wir haben Sie irgendwie größer erwartet

Wir haben Sie irgendwie größer erwartet

Titel: Wir haben Sie irgendwie größer erwartet
Autoren: Tom Holt
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ein«, knurrte der große Mann wütend, woraufhin sich der Regenbogen im Nu auflöste. Der hagere Mann grinste nur dümmlich und war kurz darauf zwischen den vielen anderen Fußgängern nicht mehr zu sehen. Wotan, Herr und König der Götter und Menschen, steckte das Taschentuch wieder ein und blickte in den Himmel, wo die beiden großen Raben kreisten.
    »Habt ihr alles mitbekommen?« murmelte er.
    Hugin, auch ›Gedanke‹ genannt, der ältere und kleinere der beiden Raben, die jeden Morgen ausfliegen, um die Welt zu durchforschen, ließ die Flügel sinken, um ihm so zu verstehen zu geben, daß er alles verstanden hatte, woraufhin Wotan langsam davonging.
    »Als müßte man eine Stecknadel im Heuhaufen suchen«, wiederholte Gedanke und ließ sich dabei in eine günstigere Thermik gleiten. Sein jüngerer Bruder Munin, ›Gedächtnis‹ genannt, ging in einen steilen Kurvenflug und folgte ihm.
    »Das ist allerdings wahr«, antwortete Gedächtnis, wobei er im Sturzflug nach einer dicke Motte tauchte. »Aber weißt du, was an unserem Job das eigentliche Problem ist?«
    »Nein. Rück schon raus damit!«
    »Das beschissene Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Ich meine, nimm zum Beispiel Wotan. Er hält sich doch mittlerweile für den Allmächtigen.«
    »Aber das ist er doch auch, oder?«
    Gedächtnis schwebte für einen Augenblick auf einer Windbö und murmelte schließlich: »So habe ich das allerdings noch nie gesehen.«
    »Das sieht dir mal wieder ähnlich«, entgegnete Gedanke.

2. KAPITEL
     
    Bevor er am nächsten Morgen aufstand, dachte Malcolm erst einmal ausgiebig und angestrengt nach, denn er war im Lauf des vergangenen Vierteljahrhunderts immer mehr zu der Einsicht gekommen, daß sehr viel weniger schiefgehen konnte, solange man im Bett lag.
    Aber da er es versäumt hatte, die Vorhänge vorzuziehen, fiel an diesem strahlenden Sommermorgen das grelle Sonnenlicht durch das Fenster, und es war unmöglich weiterzuschlafen. Obwohl er noch immer ziemlich verwirrt war, lag Malcolm mittlerweile hellwach da. Ein solcher Geisteszustand war für ihn allerdings normal; denn ohne konfuse Gedanken wäre er sich ziemlich hilflos vorgekommen.
    Mit Ratlosigkeit zu reagieren, ist die logische Folge, wenn man sein Leben lang von seinen Eltern oder Verwandten mit nicht zu beantwortenden Fragen konfrontiert wird (Was sollen wir nur mit dir machen? Warum bist du nicht so wie deine Schwester?). Nach der Häufigkeit zu urteilen, mit der ihm diese beiden Fragen gestellt wurden, schien eigentlich nur das zweite Problem wirklich von Bedeutung zu sein, zumal nicht einmal die enormen intellektuellen Fähigkeiten seiner Familie dazu ausgereicht hatten, bis heute eine Antwort darauf zu finden. Malcolm selbst hatte nie einen Gedanken daran verschwendet, dieses Problem zu lösen; das hielt er nicht für seine Aufgabe. Seine Aufgabe (falls er in diesem Leben überhaupt eine Aufgabe hatte, was er manchmal arg bezweifelte) bestand einzig und allein darin, mit seiner älteren Schwester Bridget verglichen zu werden. Ähnlich wie die Kontrollgruppe während der Testphase eines neuen Medikaments war Malcolm dazu da, seinen Eltern vor Augen zu führen, was sie an ihrer außergewöhnlichen Tochter hatten. Wann immer sie törichterweise versucht waren, an diesem phantastischen Geschöpf zu zweifeln oder es gar zu unterschätzen, bedurfte es nur eines einzigen Blicks auf Malcolm, um sich daran zu erinnern, wie glücklich sie mit ihrer Tochter dran waren. Also war es Malcolms Berufung, als Enttäuschung herzuhalten; wäre es anders gewesen, hätte er seine Pflicht als Sohn und Bruder nicht erfüllt.
    Als Bridget ihren Verlobten Timothy geheiratet hatte (einen Mann, der die alte Weisheit veranschaulichte, daß man es allein durch Arbeit zu etwas bringt, und sei es zum Unternehmensberater), war sie kurz darauf nach Australien ausgewandert, um ihren unwiderstehlichen Glanz über Sydney auszubreiten. Angelockt von der Aussicht auf Enkelkinder, hatten Malcolms Eltern fast zwangsläufig ihr gesamtes Hab und Gut verkauft, um ihrer Tochter zu folgen. Eher beiläufig erwähnten sie damals, daß auch Malcolm mitkommen könne, aber das kam nicht von Herzen; er wurde nicht mehr länger gebraucht, da nun der farblose und langweilige Timothy die Rolle des Verlierers übernehmen konnte. Deshalb faßte Malcolm insgeheim den Entschluß, lieber in England zu bleiben. Er verabscheute grelles Sonnenlicht, konnte sich weder für Filme noch für Opern, Tennis
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