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Wir haben Sie irgendwie größer erwartet

Wir haben Sie irgendwie größer erwartet

Titel: Wir haben Sie irgendwie größer erwartet
Autoren: Tom Holt
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Teller, Becher, Ringe, Aschenbecher, Pfeifenständer, Manschettenknöpfe, Wasserhähne – alles aus Gold. Einige unförmige Gegenstände (wahrscheinlich unter dem Motto ›Wir basteln uns einen Briefbeschwerer‹ von noch auszubildenden Nibelungen in Abendkursen gefertigt) plumpsten zu allen Seiten herunter, so daß sich Malcolm eine große Schüssel mit Reliefeinlagen schnappen mußte, die er bis zum Versiegen des Goldregens über den Kopf hielt, um ernsthafte Verletzungen zu vermeiden.
    Während er die rings um ihn verteilten Objekte seiner Skepsis einsammelte, versuchte Malcolm sich einzureden, daß es sich dabei nicht um echtes oder reines Gold handelte – was allerdings eine kaum aufrechtzuerhaltende Hypothese war: Nur ein übertriebener Geizkragen hätte sich die Mühe gemacht, übernatürliche Kräfte walten zu lassen, um Kupfer oder Messing zu materialisieren. Nein, dieses Gold war echt, es war lupenrein, es existierte, und in seinem Zimmer sah es aus wie auf einem Schrottplatz, hätte seine Mutter bestimmt gesagt, wenn sie anwesend gewesen wäre. Nachdem er sich von seinen Schätzen befreit hatte, kramte Malcolm erst einmal einige alte Pappkartons hervor, in denen er gleich darauf alles Gold ordentlich verstaute. Das allein war schon Schwerstarbeit, aber als Malcolm gähnend den Kopf schüttelte und sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn wischte, wurde der ganze Vorgang versehentlich noch einmal von vorn ausgelöst …
    »Um Himmels willen! Jetzt hört endlich auf damit!« brüllte er, als ihn ein Wasserkrug aus massivem Gold nur knapp verfehlte.
    Schließlich versiegte der sintflutartige Goldregen, und Malcolm setzte sich auf die Bettkante.
    »Also bin ich tatsächlich dazu verdammt, über die Welt zu herrschen!« stöhnte er laut, während er eine goldene Krawattennadel entfernte, die ihm in den Schlafanzug gefallen war.
    Sosehr er sich auch bemühte, konnte er sich darunter nichts vorstellen, und deshalb verdrängte er den Gedanken erst einmal. Außerdem gab es noch den Tarnhelm zu berücksichtigen. Äußerst vorsichtig setzte er ihn sich auf und stellte sich vor den Spiegel. Der Helm bedeckte seinen Kopf – die Kappe schien über Nacht gewachsen zu sein, oder paßte sie sich etwa automatisch seinem Besitzer an, indem sie je nach Bedarf größer oder kleiner wurde? – und wurde unter dem Kinn von einer kleinen Spange in der Form eines sich zusammenkauernden Zwergs zusammengehalten.
    Soweit er sich erinnern konnte, mußte er nur an einen Ort denken, wo er gern gewesen wäre, und diese magische Kappe erledigte dann den Rest. Wie üblich, wenn Malcolm aufgefordert war, an etwas zu denken, setzte sein Verstand auch diesmal komplett aus. Eine Weile stand er entgeistert vor dem Spiegel, dann fiel ihm wieder ein, daß der Helm ihn auch unsichtbar machen konnte. Er dachte: Unsichtbar. Und er war unsichtbar.
    Es war ein merkwürdiges Gefühl, in den Spiegel zu schauen und sich selbst nicht zu sehen, und Malcolm war sich keineswegs sicher, ob ihm das überhaupt gefiel. Deshalb beschloß er wiederzuerscheinen und war über alle Maßen erleichtert, als er sich wieder im Spiegel sah. Er wiederholte diesen Vorgang einige Male, erschien und verschwand wie ein Blinklicht. Du siehst mich, du siehst mich nicht … und so weiter. Sei nicht so kindisch! sagte er sich. Ich muß diese Sache ernst nehmen, sonst werde ich noch total verrückt.
    Als nächstes wollte er es ausprobieren, eine andere Gestalt anzunehmen. Er schaute sich überall im Zimmer nach einer Anregung um, und sein Blick fiel schließlich auf eine alte Zeitschrift, auf deren Titelblatt der Finanzminister abgebildet war. Ihm fiel ein, daß seine Mutter sich immer gewünscht hatte, daß aus ihm einmal etwas Anständiges werden sollte, und wenn er nun wollte, konnte er sich selbst zu einem Mitglied der Regierung ernennen …
    Im selben Augenblick tauchte im Spiegel der Finanzminister auf. Zwar wirkte er mit dem blauen Schlafanzug und der Kappe aus kettenhemdähnlichem Material ein wenig exzentrisch, aber dennoch war das unverkennbar der Minister. Obwohl sich Malcolm redlich Mühe gegeben hatte, sich innerlich auf dieses Verwandlungsexperiment einzustellen, erlitt er doch einen Angstschock. Aufgeregt blickte er sich im Zimmer um, aber er selbst war nirgendwo mehr zu sehen. Also hatte er sich tatsächlich in eine andere Person verwandelt!
    Er zwang sich, wieder in den Spiegel zu schauen, und ihm kam der Gedanke, daß er, wenn er sich schon auf
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