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London NW: Roman (German Edition)

London NW: Roman (German Edition)

Titel: London NW: Roman (German Edition)
Autoren: Zadie Smith
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1
    Die pralle Sonne trödelt bei den Telefonmasten. An den Schultoren und Laternenpfählen wird die Anti-Kletter-Farbe schwefelgelb. In Willesden laufen die Leute barfuß, es wird europäisch auf den Straßen, alle Welt will draußen essen. Sie bleibt im Schatten. Rothaarig. Im Radio: Ich allein verfasse das Lexikon, das mich definiert. Guter Spruch – gleich aufschreiben, hinten auf die Zeitschrift. In der Hängematte, im Garten der Souterrainwohnung. Eingezäunt, von allen Seiten.
    In der Siedlung, vier Gärten weiter, brüllt eine finstere Frau vom dritten Stock Schimpftiraden ins Leere. Meilenweit zu hören von diesem Julia-Balkon. Stimmt nicht. Nee, stimmt nicht. Hör bloß auf. Kippe in der Hand. Fett, krebsrot.
    Ich allein
    Ich allein verfasse
    Bleistift schreibt nicht auf Zeitschriftenpapier. Irgendwo hat sie gelesen, man kriegt Krebs von dem Hochglanzzeug. Weiß man doch, dass es jetzt noch nicht so heiß sein darf. Verschrumpelte Blüten und bittere kleine Äpfel. Vögel singen die falschen Lieder auf den falschen Bäumen, viel zu früh im Jahr. Mann, hör mir bloß auf! Blick nach oben: Die Sonnenbrandwampe der Frau liegt auf der Brüstung. Wie sagt Michel immer: Es kann eben nicht jeder vorne mit dabei sein. Nicht in der heutigen Zeit. Grausame Ansicht – sie teilt sie nicht. In einer Ehe teilt man nicht alles. Gelbe Sonne hoch oben am Himmel. Blaues Kreuz an weißer Stange, klar, eindeutig. Was tun? Michel ist arbeiten. Immer noch arbeiten.
    Ich
    allein
    Asche weht in den Garten hinunter, dann folgt die Kippe, danach die Schachtel. Lauter als Vögel und U-Bahn und Verkehr. Alleiniges Anzeichen geistiger Gesundheit: ein kleiner Knopf, der ihr im Ohr steckt. Ich hab ihm gesagt, er soll sich nicht immer Freiheiten rausnehmen. Wo bleibt mein Scheck? Und dann kaut die mir ständig ein Ohr ab. Scheiß Freiheiten.
    Ich allein. Allein. Allein
    Sie öffnet die Faust, lässt den Bleistift fortrollen. Nimmt sich die Freiheit. Nichts anderes zu hören als diese verdammte Frau. Zumindest gibt es mit geschlossenen Augen was anderes zu sehen. Zähe schwarze Flecken. Wasserbienen, die im Zickzack hin und her schießen. Zick. Zack. Roter Fluss? Geschmolzener Höllensee? Die Hängematte kippt. Die Zeitung segelt zu Boden. Weltspiegel, Immobilien, Film und Musik liegen im Gras. Dazu der Sport und die Kurzbeschreibungen der Toten.

2
    Die Klingel! Barfuß stolpert sie durchs Gras, sonnenwirr, schläfrig. Die Hintertür führt in eine klitzekleine Küche, bunt gekachelt nach den Vorlieben eines Vormieters. Da wird nicht nur geklingelt. Da hält wer den Finger drauf.
    Ein verschwommener Umriss hinter der strukturierten Scheibe. Falsche Pixelanordnung für Michel. Zwischen ihr und der Tür die Flurdielen, golden im Sonnenlicht. So ein Flur kann nur zum Guten führen. Aber da draußen brüllt eine Frau BITTE und weint. Da draußen schlägt eine Frau mit der Faust an die Tür. Als sie den Riegel öffnen will, klemmt er auf der Hälfte, die Kette spannt sich, und eine kleine Hand schießt durch den Spalt.
    – BITTE – o Gott, helfen Sie mir – bitte Miss, ich wohn hier – ich wohn gleich hier, o Gott, bitte – schauen Sie, bitte –
    Dreckige Nägel. Und eine Gasrechnung? Eine Telefonrechnung? Durch die Öffnung geschoben, vorbei an der Kette, so nah, dass sie ein Stück zurückgehen muss, um zu erkennen, was ihr da gezeigt wird. Ridley Avenue 37 – gleich um die Ecke. Mehr liest sie nicht. Kurz sieht sie Michel vor sich, wie er wäre, wenn er hier wäre, wie er das Plastikfenster des Umschlags prüfen, nach Echtheitsnachweisen suchen würde. Michel ist arbeiten. Sie macht die Kette los.
    Die Knie der Fremden geben nach, sie fällt vornüber, sackt zusammen. Mädchen oder Frau? Sie sind gleich alt: Mitte dreißig, so in etwa. Tränen schütteln den schmalen Körper der Fremden. Sie zerrt sich an den Kleidern und heult. Die Frau, die die Welt als Zeugin anruft. Die Frau im Kriegsgebiet, in den Trümmern ihres Heims.
    – Sind Sie verletzt?
    Sie hat die Hände im Haar. Ihr Kopf stößt an den Türrahmen.
    – Nein, ich nicht, meine Mutter – ich brauch Hilfe. Ich war schon an jeder scheiß Tür – bitte. Shar – Shar heiß ich. Ich bin von hier. Ich wohn hier. Schauen Sie!
    – Kommen Sie rein. Bitte. Ich heiße Leah.
    Leah ist diesen fünf Quadratkilometern der Stadt so treu verbunden wie andere Leute ihrer Familie oder ihrem Vaterland. Sie weiß, wie die Leute hier reden, dass scheiß in dieser Gegend einem Satz
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