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Wir haben Sie irgendwie größer erwartet

Wir haben Sie irgendwie größer erwartet

Titel: Wir haben Sie irgendwie größer erwartet
Autoren: Tom Holt
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sich zum Guten wenden.« Ingolfs Augen schlossen sich, sein Atem wurde schwach, seine Worte waren kaum mehr zu verstehen. Aber plötzlich schreckte er hoch und stützte sich auf dem Ellbogen ab. »Einen Augenblick noch!« keuchte er. »Ein gottähnlicher junger Tor, der nicht versteht … der nicht versteht …« Völlig erschöpft sackte der Riese in sich zusammen und stöhnte: »Trotzdem habe ich Sie mir irgendwie größer vorgestellt.«
    Ingolf zuckte zum letztenmal zusammen und lag regungslos wie ein Stein da. Der Wind, der sich während der letzten Sätze des Riesen zusammengeballt hatte, begann zu heulen und peitschte wie wild durch die Bäume. Ingolf war tot; seine Umrisse waren bereits nicht mehr zu erkennen, während sich sein Körper mitten auf der Fernstraße von Minehead nach Bridgwater in einen grauen Stein verwandelte. Überall um sich herum machte Malcolm ein wildes Durcheinander von Stimmen aus, von Menschen wie von Tieren, von lebenden und toten Wesen, und wie der Kontrapunkt zu einer gewaltigen Fuge erklangen die tiefen donnernden Stimmen der Bäume und Felsen – die ganze Erde wiederholte die erstaunliche Nachricht: Ingolf ist tot, die Welt hat einen neuen Herrscher.
    Im selben Augenblick schlugen über Malcolms Kopf zwei Raben langsam und träge mit den Flügeln. Erstarrt vor unfaßbarer Angst, stand er wie angewurzelt da, aber die Vögel flogen weiter. Die Stimmen rissen ab, der Wind legte sich, und der Regen hörte auf. Kaum konnte sich Malcolm wieder bewegen, sprang er in seinen Wagen und fuhr so schnell nach Hause, wie es der schlecht gewartete Austauschmotor zuließ. Er zog sich im Dunkeln aus und fiel ins Bett. Gleich darauf schlief er ein und wurde von einem merkwürdigen und schrecklichen Traum heimgesucht, der sich immer nur darum drehte, daß er ohne Hose in einem überfüllten Aufzug feststeckte. Plötzlich wachte er auf und saß kerzengerade in der Dunkelheit. Am Finger trug er den Ring. Neben dem Bett lag zwischen seiner Armbanduhr und dem Schlüsselbund der Tarnhelm. Draußen vor dem Fenster erzählte eine Nachtigall der anderen, was sie heute zum Abendessen verzehrt hatte.
    »Du meine Güte!« seufzte Malcolm und legte sich wieder schlafen.
     
    Die über den Rhein führende Oberkasseler Brücke hat in den letzten Jahren einen zweifelhaften Ruf erlangt, und die beiden Polizisten, die gerade auf Streife waren, wußten das nur zu gut. Sie wußten, wonach sie Ausschau halten mußten, und gerade an dieser bestimmten Stelle brauchten sie nur selten weit zu gucken.
    Ein großer Mann mit langen grauen Haaren, die unordentlich über dem Kragen seines dunkelblauen Anzugs hingen, lehnte eisleckend an der Brüstung. Obwohl er tadellos gekleidet war, stimmte mit ihm ganz offensichtlich irgend etwas nicht, und die beiden Polizisten blickten sich mit freudiger Erwartung an.
    »Drogen?« schlug der erste Polizist vor.
    »Eher Pornos«, meinte der andere. »Wenn er bewaffnet ist, bin ich an der Reihe.«
    »Du bist immer an der Reihe«, grummelte sein Kollege.
    Der zweite zuckte die Achseln. »Na gut, dann bist du eben dran«, willigte er ein. »Aber ich darf später den Wagen zum Revier zurückfahren.«
    Während sie sich ihrer Beute näherten, war ihnen zusehends beklommen zumute. Zwar empfanden sie keine Angst, aber so etwas wie Ehrfurcht oder Respekt, so daß sie auf der Stelle stehenblieben, als sich der einäugige große Mann umdrehte und sie in aller Ruhe musterte. Plötzlich mußten sie feststellen, daß ihnen das Atmen schwerfiel.
    »Entschuldigen Sie, Sir«, sagte der erste Polizist, wobei er leicht keuchte, »aber können Sie mir sagen, wie spät es ist?«
    »Gewiß«, antwortete der große Mann, ohne auf die Uhr zu blicken. »Es ist kurz nach halb elf.«
    Die beiden Polizisten machten auf dem Absatz kehrt und gingen eiligen Schrittes zurück. Während sie sich aus dem Staub machten, blickten sie gleichzeitig auf ihre Armbanduhren. Zwei Minuten nach halb elf.
    »Er muß kurz zuvor auf die Uhr geschaut haben«, stellte der erste Polizist verdutzt fest.
    »Auf welche Uhr?« wollte sein ebenso verwirrter Kollege wissen.
    »Weiß ich nicht. Auf irgendeine dämliche Uhr eben.«
    Der große Mann drehte sich wieder um und blickte eine Weile auf den braunen Fluß. Dann schnippte er mit den Fingern, und zwei riesige Raben stießen vom Himmel herab und landeten zu beiden Seiten von ihm auf der Brüstung. Der große Mann brach ein paar kleine Stücke vom Rand der Eistüte ab und schnippte sie mit
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