Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seelenzorn

Seelenzorn

Titel: Seelenzorn
Autoren: Stacia Kane
Vom Netzwerk:
1
    Wer die Toten in die Welt zurückruft, der soll mit dem Tode
    bestraft werden; wenn der gerufene Geist den Beschwörer
    nicht umbringt, so wird es die Kirche tun.
    Das Buch der Wahrheit, »Gesetze«, Artikel 3
    Geister waren unter der Erde stärker; keine Hexe begab sich freiwillig unter die Erdoberfläche, außer sie hatte eine Anordnung der Kirche oder eine ausgeprägte Todessehnsucht. Chess verfügte über beides in unterschiedlichem Maße, aber das machte die Tür hinter dem dünnen Mann, der mit einer Tasse in der Hand vor ihr stand, auch nicht gerade verlockender. Die Tür nicht und die Treppe nicht, die runter in den Keller führte, tief unter die Erde.
    Chess hatte eine Gänsehaut, nicht nur wegen des fratzenhaften, verschrumpelten Aussehen des Mannes oder der seltsamen Energie in der dreckigen Bruchbude. Irgendetwas sagte ihr, dass die Sache kein gutes Ende nehmen würde.
    Aber wann passierte das schon mal?
    Sie hätte die Scheißtypen schon allein dafür hochnehmen können, dass sie überhaupt einen Keller hatten. Nach dem Kirchengesetz war das illegal, und der Kirche war unter allen Umständen zu gehorchen. Aber sie brauchte mehr als das - ein Monat Observationsarbeit musste einfach ein zufriedenstellenderes Ergebnis abwerfen. Und deshalb setzte sie ein Lächeln auf, das hoffentlich angemessen nervös wirkte, und reichte dem dünnen Mann das mitgebrachte Foto, wobei sie darauf achtete, seine schmutzigen Finger nicht zu berühren.
    Es war ein Foto von Gary Anderson, einem Debunker-Kollegen, aber das wusste der dünne Mann nicht. Oder wenigstens hoffte Chess das.
    »Mein Bruder«, erklärte sie ihm. Noch besser wäre es gewesen, sie hätte eine Träne verdrücken können, aber die Cepts, die sie eingenommen hatte, ließen das nicht zu. Wenn sie high war, hatte sie kaum Gefühle und schon gar keine, die auf die Tränendrüse drückten. Das war schließlich einer der Gründe, warum sie die verdammten Dinger ständig nahm, oder?
    Der dünne Mann richtete die Triefaugen auf das Foto und nickte dann.
    »Jep, hab einen gesehen, der war dem grad wie aus dem Gesicht geschnitten«, murmelte er und kratzte sich durch ein Loch in seinem abgewetzten grünen Pullover. Als er ihr den Becher entgegenstieß, hätte sie ihn fast vor die Brust bekommen. »Trinken Sie erst mal, ja?«
    »Danke, aber ...«
    »Na, na, Fräuleinchen. Entweder trinken oder draußen bleiben, klar? Alle müssen das.« Von den rissigen Lippen blätterten Hautfetzen ab, als sie sich zur grausigen Karikatur eines Lächelns verzogen, so als krabbelte ihm ein fetter Wurm übers Gesicht. Dabei wurden abgesplitterte, angegraute Zähne sichtbar. »Alle müssen das trinken, oder die Energie stimmt nicht.«
    Scheiße. In dieser ekligen Tasse konnte wer weiß was sein. Und selbst wenn der »Tee« harmlos war — was sie bezweifelte —, sah der Tassenrand aus, als hätte er seit der Geisterwoche das Spülwasser gemieden. Sie konnte förmlich zusehen, wie die Keime am Rand entlangkrochen.
    Sie sagte sich, dass bei diesem Job ein paar Tausender Bonus drin waren, und riss ihm die Tasse aus der runzligen Hand.
    Ihre Blicke trafen sich. Sie wandte die Augen nicht ab, während sie die Tasse hob und sich den Inhalt in die Kehle schüttete.
    Einen Moment lang drehte sich alles und kippte auf die Seite wie in der Achterbahn. Das Gebräu schmeckte nach bitteren Kräutern und Leim, Meerwasser und Kläranlage. Es war das Ekelhafteste, was sie jemals im Mund gehabt hatte, und das wollte schon was heißen.
    Mit schierer Willenskraft behielt sie es bei sich und bekam ein weiteres grausiges Lächeln als Belohnung. Hinter diesem Lächeln lauerte etwas, aber sie hatte nicht die Zeit, es zu ergründen.
    Seine Hand war an ihrem Ärmel und zog sie in den finsteren Schlund der Treppe. Ihre Schritte hallten auf den hölzernen Stufen, als sie in das feuchte Kellerloch hinabstieg.
    Die anderen warteten bereits. Im Schein lodernder Fackeln saßen sie im Kreis um einen zerkratzten Holztisch. Über das eine Ende war ein blauer Seidenschal gebreitet, der Blut- oder Weinflecke hatte - oder vielleicht hatte auch ein Magen den Kampf mit dem Tee verloren.
    Aber das konnte sie jetzt nicht untersuchen, selbst wenn sie gewollt hätte. Stattdessen ging sie auf den Tisch zu, geradewegs zu dem Holzstuhl mit der hohen, geraden Rückenlehne, den jemand für sie abgerückt hatte.
    Dieser Jemand war, wie ihr jetzt auffiel, ein anderthalb Meter großes menschliches Wesen unbestimmten Geschlechts in
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher