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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen
Autoren: Sascha Arango
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Augenblick bewusst, denn er verstummte, vielleicht war es auch Henrys Blick.
    Â»Sind Sie sicher, dass es diesmal die richtige ist?«, fragte Henry.
    Jenssens Vorgesetzter, besagtes Genie der Fallanalyse, drängte sich dazwischen. »Mein Name ist Awner Blum, ich leite die Mordkommission und möchte mich für die etwas direkte Art meines Mitarbeiters entschuldigen.«
    Henry blieb stehen. »Sie haben meine Frau wirklich gefunden?«
    Â»Definitiv. Es … tut mir leid, aber es ist so. Sie wurde identifiziert.«
    Â»Nicht von mir. Ist sie tot?«
    Â»Leider ja. Mein Beileid.«
    Â»Wo? Wo haben Sie sie gefunden?«
    Â» Wir haben sie nicht gefunden. Sie wurde gefunden. Aber darüber sollten wir vielleicht nicht hier und nicht jetzt reden, sondern besser in Ruhe im Präsidium, wenn Ihnen das recht ist.«
    Â»Wo ist sie?«
    Â»In der Gerichtsmedizin.«
    Honor Moreany kam von der Spitze des Trauerzuges zurück zu Henry und den Polizisten. »Was ist passiert?«
    Â»Sie haben Martha gefunden.«
    Honor schaute den Polizisten ins Gesicht. »Und damit kommen Sie hierher , um uns das mitzuteilen?«
    Â»Wir erklären Ihnen alles in Ruhe auf dem Präsidium, Herr Hayden. Es dauert nicht lang.«
    Honor umarmte Henry und drückte ihn fest. »Geh mit, Henry. Claus würde das von dir verlangen.«
    Henry küsste Honors Hand und schaute zu Jenssen. »Wo entlang?«
    Â»Hier entlang bitte.« Die Männer gingen in entgegengesetzter Richtung zum Trauerzug zum Nebenausgang des Friedhofs.
    Henry fing die irritierten Blicke der Trauergäste auf. »Es sieht aus wie ein Verhaftung. Wollten Sie das?«
    Â»Auf keinen Fall. Unser Treffen hier hat rein terminliche Gründe, Herr Hayden. Wir brauchen Ihre Hilfe, das ist keine Verhaftung und kein Verhör.«
    Es war eine öffentliche Zurschaustellung gewesen. Ebenso gut hätte man ihn am Ausgang bei den Shuttles erwarten können. Die Kenner der polizeitaktischen Gesprächsfüh rung wollen beachten, dass weder Blum noch Jenssen er wähnt hatten, dass Martha tot war, noch wo, wie und wann sie gefunden wurde. Sie hatten sich offenbar entschieden, jedes Krümelchen Täterwissen aus Henry herauszupolken. Be my guest, motherfuckers , dachte Henry. Er war bestens vorbereitet.
    Jenssen blieb stehen, als er Gisbert Fasch sah, der, so schnell es seine steifen Beine erlaubten, hinter ihnen herhinkte. Er ging ihm entgegen und wechselte ein paar Worte mit ihm, während Henry, eskortiert von den drei Herren der Polizei, das Friedhofsgelände verließ und in einen weißen Audi A6 stieg. Fasch blieb zurück. Henry sah ihn niemals wieder.

XXIII
    S ie hatten nichts.
    Nur der Hauch einer Ahnung, ein Zipfelchen von einem Indiz hätte dieses dürftige Einschüchterungsritual auf dem Friedhof überflüssig gemacht. Sie hatten nichts, sie wussten nichts, sie waren nichts. Sie machten nur ihre Arbeit, und sie wollten ein Ergebnis. Verbrechen aufzuklären ist eine ähnlich beschwerliche Arbeit wie Verbrechen zu begehen, mit dem Unterschied, dass die Pausen bezahlt werden.
    Â»Wann erscheint Ihr neuer Roman?«, erkundigte sich Jenssen während der Fahrt. Er war sichtlich bemüht, seine Scharte bei Henry wieder auszuwetzen.
    Â»Zur Buchmesse.«
    Â»Darf man fragen, worum es geht?«
    Â»Ja, das dürfen Sie.« Henry schaute aus dem Wagenfenster und sah die symmetrisch grauen Fassaden an sich vorüberziehen. Es würde ein langer, schwieriger Kampf werden. Sie waren zu viert gekommen, um von Beginn an jede Regung, jedes Wort und jeden Widerspruch zu registrieren. Während der etwa fünfzehn Kilometer langen Fahrt wurde kein weiteres Wort mehr gewechselt.
    Die rote Ziegelsteinmauer mit dem Stacheldrahthäubchen zog sich über einen ganzen Straßenzug um das Polizeipräsidium. Das Präsidium war vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs ursprünglich als Kaserne konzipiert worden, das Ensemble von Gebäuden, Mauern und NATO-Drahtzäunen hatte noch immer den Charme einer verlorenen Kesselschlacht. Als die Schranke sich hob, sagte Henry leise: »Sankt Renata.«
    Der »Besprechungsraum«, wie sie es nannten, war eine Gaskammer mit Luftlöchern. Henry sah Kaffeeflecken wie Schimmelkulturen auf dem Linoleumboden. In der Mitte des Raumes stand eine große Klapptafel, die mit einer mausgrauen Decke verhängt war. Henry nahm auf einem gepolsterten Drehsessel Platz,
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