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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen
Autoren: Sascha Arango
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sondern schien auf ihrem eigenen Schatten zu stehen. Der Körper war nicht transparent, vereinzelte Lichtfelder wurden sogar darauf reflektiert. Unverändert fehlte ihr das halbe Gesicht. Henry drückte zum wiederholten Male auf den Auslöser. Das Kameradisplay zeigte wie erwartet eine Aufnahme des Scheunentors ohne Gestalt.
    Henry war sich von vornherein sicher gewesen, dass Einbildungen sich auch mit modernsten Digitalkameras nicht fotografieren lassen, eben weil sie Einbildungen sind. Aber auch Einbildungen können gelöscht werden. Erst neulich hatte er einem forensischen Journal entnommen, dass Amputierte, die unter Phantomschmerzen leiden, beim Anlegen einer Prothese Erleichterung verspüren. Das Gehirn akzeptiert die künstliche Extremität und stellt seine Schmerzmeldungen ein, offenbar gibt es sich auch mit Behelfslösungen zufrieden.
    Diesem zugegeben simplen Gedankengang war er gefolgt, indem er seine Halluzination fotografierte, um sich dann von ihrer Nichtexistenz auf dem Foto zu überzeugen. Wenn mein Gehirn erst begreift, was ich schon weiß, dachte er, werden diese Halluzinationen vielleicht enden.
    Im Schatten döste Poncho derweil wie ein mexikanischer Bahnwärter. Ab und an nur öffnete er ein Auge, falls doch etwas vorbeikommen sollte, dann schloss er es wieder. In seiner Welt gab es keine Behelfslösungen und keine Projektionen, sondern nur angenehme Dinge und unangenehme. Henry setzte die Kamera auf das Stativ, stellte den Zeitauslöser auf zehn Sekunden und drehte sich um. Er schloss die Augen und wartete mit dem Rücken zur Scheune, bis er das Geräusch des klappenden Spiegels hörte.
    An Bord der »Drina« vernahm Obradin die Sturmwarnung über sein mobiles Funkgerät, als er den neuen Dieselmotor anwarf. Das Barometer zeigte einen Druckanstieg von drei Hektopascal in der vergangenen Stunde an, der Wetterumschwung stand unmittelbar bevor. Der Sturm mit Orkanböen hatte Kurs auf die südliche Nordsee genommen, die Kaltfront überquerte bereits die Shetlandinseln. Der Schiffsverkehr von und nach Stavanger war eingestellt worden. Im Verlauf der kommenden Nacht würde der Sturm mit höchster Intensität auf die Küste treffen. Der Diesel sprang an, stieß eine graue Rußwolke aus und begann gleichmäßig zu laufen. Obradin kontrollierte die Öldruckanzeige und legte die Hand an die Bordwand. Der Volvo-Motor ließ das Holz kaum noch vibrieren. Ein fabelhafter Motor, wie Obradin fand, aber ganz sicher nicht von seiner Frau im Lotto gewonnen.
    Zur gleichen Zeit befestigte Jenssen ein Nylonseil an einem Betonpoller und ließ sich vorsichtig über den befestigten Rand der Straße herab. Er erreichte einen Felsvorsprung, von dem aus er weiter herabsteigen konnte, bis er den Spalt erreichte, wo der braune Gegenstand lag, den er von der Straße aus gesehen hatte. Er legte sich auf den Bauch und schaute in die dunkle Vertiefung. In der lederartig schimmernden Oberfläche erkannte er einen Beschlag, der nach angelau fenem Messing aussah, und daran einen Henkel. Triumphierend streckte Jenssen den muskulösen Arm in den Spalt, es fehlte etwa eine Handbreit zwischen Fingerspitzen und dem Henkel. Er setzte sich auf, zog den Turnschuh mitsamt dem Socken aus und versuchte, die Tasche mit dem Fuß zu greifen, auch das schlug fehl, weil seine Wade zu dick für den schmalen Spalt war. Von oben drang das Geräusch eines Wagens zu ihm, der um die Kurve fuhr, wo Fasch verunglückt war. Fluchend begann Jenssen nach einem Stock zu suchen. Die spärliche Vegetation rund um den Spalt gab nichts her, etwa fünf Meter seitlich sah er einen vertrockneten Strauch, dessen dürre Zweige die geeignete Länge zu haben schienen. Er wickelte sich das Seil um den Bauch, zog, um die Spannung zu prüfen, dann kletterte er pendelnd an der Felswand entlang.
    Henrys Telefon klingelte. Honor Eisendrahts Stimme war heiser vor Erregung. »Wir haben Ihr Manuskript gefunden, Herr Hayden, wir haben es gefunden!«
    Henry legte die Canon auf den Boden. »Wo?«
    Â»Auf so einem kleinen Speicherstick in Bettys Büro. Stellen Sie sich vor. Die Kriminalpolizei hat das Büro erst heute früh freigegeben. Dieser Stick lag in einer Glasschale auf ihrem Schreibtisch. Sie hat Ihr Manuskript Seite für Seite digitalisiert. Wir sind alle ganz aus dem Häuschen, Henry, besonders Moreany. Er kommt extra in den Verlag. Weiße Finsternis
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