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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen
Autoren: Sascha Arango
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stieg aus dem Wagen, augenblicklich durchnässte ihn der Regen. Er packte die Platte, drehte sie aus dem Wind. »Wo ist Obradin?!«, schrie er. Helga zuckte mit den Schultern und rief ihm etwas zu, das er nicht verstand. Nach zwei misslungenen Versuchen schoben sie gemeinsam die Platte in die Verankerung, Helga ließ die eisernen Riegel zuschnappen. Anschließend zerrte Henry den bellenden Hund aus dem Wagen in den Fischladen. Verängstigt und klein wie ein Welpe flüchtete er in eine Ecke und kauerte sich zusammen. Henry bemerkte, dass die Fischtheke leergeräumt und sauber war.
    Â»Was ist los? Wo ist Obradin?«
    Â»Na, wo wohl? Auf seiner Geliebten!« Helga wischte sich das Gesicht mit dem Handrücken, schwer zu sagen, ob es Regen oder Tränen waren. »Dieser Verrückte hat wieder angefangen zu trinken. Er verbringt die ganze Zeit auf seinem Scheißkutter und fummelt an dem neuen Motor herum, als wenn es nichts anderes gäbe auf der Welt. Er wird mich verlassen, ich spüre es.«
    Die »Drina« tanzte in einem Schleier von weißer Gischt, der Mast neigte sich wie ein Metronom in der Dünung, Topp-und Seitenlichter brannten, der Motor lief. Henry rannte geduckt über die Mole, um nicht ins Meer geweht zu werden. Nur zwei Taue hielten den Kutter an mannshohen Holzpollern. Zwischen Bordwand und Mole schossen Wasserfontänen empor. Henry erreichte einen Poller, klammerte sich daran fest und kroch auf allen vieren über die hölzerne Stelling an Bord des schwankenden Kutters.
    Obradin lag in vollem Ölzeug neben dem Motor. Viel Wasser war bereits in den Maschinenraum eingedrungen. Henry drehte ihn auf den Rücken.
    Â»Mach die Taue los, mein Freund, wir fahren!«, lallte Obradin im Vollrausch. Das Mittagessen mit reichlich Zwiebeln und Salat klebte ihm auf Gesicht und Brust.
    Henry richtete Obradins Oberkörper auf, ein vulkanischer Rülpser entwich ihm. Er gab ihm mit dem Handrücken ein paar Klapse ins Gesicht. »Sei nicht blöd, komm an Land. Mach deine Frau nicht unglücklich.«
    Â»Was weiß die schon von Unglück! Sag ihr, ich bin morgen wieder da.« Ein Wasserschwall schwappte in den Motorraum, Obradins Augen fielen wieder zu, Henry schüttelte ihn.
    Â»Es gibt kein Morgen, du Säufer. Der Orkan kommt erst noch, du kehrst nicht mehr zurück!«
    Henry versuchte Obradin emporzuzerren. Mit einer mühelosen Bewegung des Armes schob der massige Mann ihn von sich weg, sodass Henry mit dem Rücken gegen den Motor prallte. Obradin kam für einen kurzen Moment zu klarem Bewusstsein, richtete sich drohend auf und ballte die Faust. »Wir sind quitt, Henry! Du hast gegeben, du hast bekommen. Ich schulde dir nichts mehr.« Dann verdrehte er die Augen und fiel hart nach hinten, sein Kopf blieb im Wasser liegen.
    Ein großes Schlusswort. Henry wägte ab. Sie waren quitt. Obradins Tod würde das leidige Restrisiko eliminieren, den Feind im Detail, das unbedachte Wort, die Kleinigkeit, die man vergisst, den unscheinbaren Fehler, der alles zunichtemacht. Obradin würde ertrinken, und mit ihm der menschliche Faktor. Keiner würde je einen Zusammenhang mit Bettys Verschwinden sehen. Henry musste nur von Bord gehen und das Schicksal für sich arbeiten lassen. Es hatte ihn bisher niemals enttäuscht. Doch statt dies zu tun, löste Henry seinen Gürtel, band ihn um Obradins Rumpf und zog ihn von Bord des Kutters. Man muss es wohl das sporadisch Gute nennen, von dem Henry selber glaubte, es führe zwangsläufig zur Strafe und sei nichts als eine kurze Unterbrechung des Bösen.
    Der Orkan wütete zwei Stunden lang. Im Minutentakt kamen die Seewetterberichte aus dem Funkgerät: ++ Schwere Sturmböen bis 120 km/h, Nord 10 bis 11, West drehend; Skagerrak West 12, Nordost drehend, abnehmend 11 ++. Henry legte sich erschöpft neben dem schnarchenden Obradin auf ein Feldbett im Gemeindehaus, wo eine Art Lazarett für den Notfall improvisiert worden war. Die Außenmauern des Gebäudes waren mit Stahlbeton verstärkt, Fenster und Türen mit Aluminiumrollläden gesichert, man hätte einen Luftangriff der Alliierten überstehen können, ohne ihn auch nur zu bemerken. Gelegentlich bebte die Erde, ansonsten war es langweilig wie im Wartezimmer einer Arztpraxis. Frauen flüsterten, Männer raunten, Kinder heulten, Hunde hechelten, zwischendurch erscholl die monotone Stimme aus dem Funkgerät
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