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Im Mondlicht (Phobos) (German Edition)

Im Mondlicht (Phobos) (German Edition)

Titel: Im Mondlicht (Phobos) (German Edition)
Autoren: Michael Schuck
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    Im Jahr 2000
    Völlig fassungslos starrte Judith auf die mit lila Tinte geschriebenen Zeilen: "Meine Sehnsucht nach Deinen starken Händen zerreißt mich. Voller Ungeduld erwarte ich Deinen nächsten Besuch."
    Judith sah aus dem Fenster auf die rußbedeckten Dächer des Hafenviertels. Ganz durch Zufall hatte sie das Geheimfach im Schreibtisch ihres Mannes entdeckt. Sie hatte Staub gewischt, und eines dieser kleinen Säulchen, die die Papierablage trugen, hatte sich durch den Druck ihrer Finger gedreht. Neugierig hatte Judith noch etwas stärker gedrückt. Es gab einen kurzen, klackenden Ton. Irgendetwas war aufgesprungen. Judiths Aufmerksamkeit war nun geweckt. Sie suchte und fand schließlich das Geheimfach an der Rückseite des Schreibtisches. Es quoll über vor Briefen. Noch ahnte Judith eigentlich nichts Böses. Aber als sie ihr schlechtes Gewissen niederdrückte und ihrer Neugier freien Lauf ließ, stieß sie auf Zeilen, die an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig ließen. Das waren keine theologischen Diskussionen, die ihr Mann, der Pfarrer, mit Kollegen ausgefochten hatte. Ganz offensichtlich war jeder einzelne Brief in diesem Fach ein Liebesbrief.
    Judith breitete den ganzen Packen vor sich auf dem Schreibtisch aus. Jetzt stand ihr der Schweiß auf der Stirn. Immer wieder strich sie sich nervös die dicken grauen Haarsträhnen aus der Stirn. Ihr Gesicht glühte wie im Fieber. Brief um Brief hatte sie durchgeblättert. Seit zwanzig Jahren hatte es offensichtlich immer wieder andere Frauen im Leben ihres Mannes gegeben.
    Seit fünf Jahren lebten sie in dieser Hafengemeinde. Es sollte die letzte Stelle ihres Mannes vor seiner Pensionierung werden.
    Eine ungute Stille lastete auf dem großen alten Haus. Wie schierer Hohn klangen in Judith jetzt seine frommen Worte auf, die er bei seiner Einführung in diese Gemeinde gesprochen hatte. Von "vor Anker gehen" und " anlegen" sowie "in den Hafen einlaufen" war da die Rede gewesen. Alle diese öffentlichen Sätze bekamen nun eine ganz andere hintergründige Bedeutung.
    Judith sortierte die Briefe nach Daten. In jeder Gemeinde waren Geliebte gewesen. Aber die erotische Anziehungskraft ihres Mannes ging offenbar weit über die eigene Gemeinde hinaus. Nun, das war lange her. Judiths Herz begann mit harten Schlägen zu hämmern, als sie sich den letzten fünf Jahren näherte.
    Da gab es nur noch eine Schrift, eine sehr schöne, zudem noch mit lila Tinte geschrieben. Und Judith kannte diese Schrift nur zu gut. Sie kannte sie aus Kindertagen. Es war die Schrift ihrer Schwester.
    Griselda, dachte Judith, du warst immer schon ein verwöhntes kleines Miststück. Von allen drei Schwestern, die ich hatte, warst du die bequemste, verlogenste und eigentlich dümmste.
    Alle antrainierte fromme Sanftheit fiel mit einem Male von Judith ab. Sie fühlte sich so unendlich betrogen.
    Judith hörte die Haustüre gehen. Sie nahm Griseldas letzten Brief in die Hand, in dem so viele intime Details beschrieben waren, trat auf den Flur und ging zur Treppe.
    Ihr Mann stieg, in würdiges Schwarz gekleidet, die Stufen hinauf. Sein Haar glänzte im Lichte der weißen Wintersonne wie flüssiges Silber. Judith empfing ihn am Treppenabsatz, holte den Brief hinter dem Rücken hervor und stieß ihn ihrem Mann wie einen Dolch entgegen. Sein Gesicht wurde hart wie Marmor. Plötzlich brannte etwas in Judiths Kopf. Sie fühlte sich leicht, geradezu schwerelos werden. Sie begann zu schweben. Der Flur drehte sich um sie, erst ganz langsam, dann immer schneller. Schließlich sah und spürte sie nichts mehr. Samtene Dunkelheit empfing sie und deckte Judith weich zu.
     
    *****
     
    Als Judith wieder zu sich kam, lag sie im Bett. Sie lag auf ihrer Seite des Ehebettes auf dem Rücken. Sie war allein. Bruchstücke der nahen Vergangenheit durchzuckten ihr träges Gehirn. Streiflichter ihres vierzehntägigen Krankenhausaufenthaltes. Sie war hart am Rande des Todes entlang geschrammt. Ein Schlaganfall hatte sie ereilt. Sie war gelähmt und konnte nicht sprechen. Aber sie konnte sehen und hören. Sie sah - furchtbare Erinnerung - ihren Mann neben ihrem Bett knien. Er betete langatmig und voller Bigotterien. Sie erinnerte sich an die mitleiderfüllten Gesichter des Küsterehepaares, der Presbyter und anderer Gemeindeglieder. Sie erinnerte sich geflüsterter Worte. Am meisten wurde ihr Mann bedauert, der sich jetzt mit einer solch kranken Frau plagen musste. Auch klangen theologische Überlegungen zum
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