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Die vergessenen Kinder: Herzensgeschichten (German Edition)

Die vergessenen Kinder: Herzensgeschichten (German Edition)

Titel: Die vergessenen Kinder: Herzensgeschichten (German Edition)
Autoren: Rita Bittner
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Die vergessenen Kinder

    Sven, der erst vor wenigen Wochen seinen neunten Geburtstag gefeiert hatte, hatte schon tief und fest geschlafen, als er von den lauten Stimmen seiner Eltern geweckt wurde. Sie stritten schon wieder. Er wusste nicht, was für ihn schlimmer war: die ewigen Zerwürfnisse oder das beleidigte Schweigen, wenn die Eltern sich nicht zankten. Eigentlich hatte er keine Ahnung, worum es ging. Aber es war so, seit sie in dem neu gebauten Haus wohnten. Als seine Omi gestorben war, hatten seine Eltern Omis alten Kasten verkauft und dieses Haus gebaut. Sie hatten es mit Möbeln gefüllt, aber sie schafften es nicht, das neue Haus auch mit Liebe zu füllen. Sven vermisste die Behaglichkeit des alten Heims und noch viel mehr seine Omi.
    Der Junge schloss die Augen und wollte sich gerade die Finger in die Ohren stecken, als er hörte, wie irgendetwas laut klirrend zerbrach. Er schälte sich aus seiner Bettdecke, stand auf und lief barfuß zum Wohnzimmer. Dort blieb er in der Tür stehen. Seine Eltern standen sich gegenüber und funkelten sich böse an. Auf dem Boden lagen die Scherben von Papas Glaspokal, den er als Junge beim Sport gewonnen hatte. Sven wusste, dass die Trophäe seinem Papa viel bedeutet hatte. Mama bemerkte ihren Sohn und schaute zu ihm hinüber, was auch seinen Papa auf ihn aufmerksam machte.
    „Was willst Du hier?“, schnauzte der ihn an. „Mach, dass Du wieder ins Bett kommst!“
    Sven zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb. Für einen kurzen Moment sahen seine Eltern für ihn aus, wie zwei aggressive kampfbereite Hunde auf zwei Beinen. Er machte drei Schritte rückwärts und schlich wieder in sein Zimmer. Jetzt fetzten sie sich, weil Papa Sven angefahren hatte.
    Der Junge ging nicht mehr schlafen. Sven zog seinen Pyjama aus und legte ihn, sauber zusammengefaltet, in sein Bett. Über seine Unterwäsche zog er sich Strümpfe, Jeans, Shirt und Sportschuhe und schlüpfte in die leichte Jacke, die er so gerne trug. Sonst nahm er nichts mit. Dann ging er einfach los. Vorbei an den sich streitenden Eltern und durch die Eingangstür, die leise hinter ihm ins Schloss fiel. Sven überquerte die Straße, schaute nicht rechts, schaute nicht links, sondern schlug unwillkürlich den Weg ein, der aus der Stadt hinausführte.
    Mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern, die Hände tief in den Vordertaschen seiner Jeans vergraben, lief der Knabe langsam aber stetig voran. Er fühlte sich nicht richtig traurig. Eigentlich wusste er gar nicht, wie er sich fühlte. Er wusste nur, dass er es daheim nicht mehr aushielt.
    Seine Eltern waren in aller Regel damit beschäftigt, sich aus dem Weg zu gehen, wenn sie sich nicht in der Wolle hatten. Papa arbeitete so lange, dass Sven schon im Bett lag und schlief, wenn er nachhause kam. Morgens war er schon weg, wenn sein Sohn aufstand. Seine Mutti stand nach Sven auf und er sah sie auch nicht, wenn er mittags von der Schule heimkam. Er wusste nicht genau, wo sie war. Manchmal hatte sie ihm Essen gemacht, das er nur noch in die Mikrowelle stellen musste. Oft musste der Junge sich aber selbst versorgen.
    Am schlimmsten fand Sven die Wochenenden, wenn sie zusammen beim Frühstück oder Abendessen saßen. Die Stimmung war so eisig, dass es Sven zwischen seinen Eltern ganz kalt wurde und er das Gefühl bekam, zu schrumpfen, bis er nicht mehr da war. Es schien ihnen nicht aufzufallen. In der letzten Zeit hatte sich Sven, ganz heimlich nur für sich, gefragt, warum seine Eltern ihn überhaupt bekommen hatten. Der Junge vermutete, dass sie ihn nicht richtig gewollt hatten. Vielleicht hatte er ja auch etwas falsch gemacht und war schuld an der ganzen Krise.

    ~*~

    Der zierliche junge Mann mit den traurigen Gedanken hatte die Stadt hinter sich gelassen. Es war dunkel und niemand war noch unterwegs, außer ein paar Nachttieren, die Sven verstohlen beobachteten, als er an ihnen vorbei ging. Ohne darauf zu achten, wanderte er an ein paar Gärten vorbei. Er erschrak, als er in seinem Augenwinkel eine hastige Bewegung wahrnahm, und schaute hin. Zuerst sah er nur die Elster, die mit dem Bauch auf der Erde lag und schwach mit den Flügeln schlug, lediglich ein paar Schritte von einem Gartentor entfernt. Dann bemerkte Sven, dass die Beine des Vogels mit einem dünnen Seil oder Faden festgebunden waren. Das andere Ende war um eine Latte des Tores geschlungen und fest verknotet.
    „
Wer macht denn so was?
“, dachte Sven empört und angewidert. Ganz vorsichtig löste er
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