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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition)
Autoren: Antonia Michaelis
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    Was wird das Letzte sein, das ich denke?
    Wenn ich keine Luft mehr bekomme, wenn das Wasser meine Lungen füllt, dann, ganz zum Schluss? Wenn niemand kommt, der mir hilft? Vielleicht spuckt die Nacht einen Menschen aus, wenn ich nur fest genug daran glaube. Einen Helfer, einen Retter.
    Und wenn nicht?
    Was wird das Letzte sein, das ich denke?
    Die Nacht war schwarz, und das Boot war sehr klein.
    Ein Ruderboot, alt und hölzern. Niemand sah, wie die Wellen es hin und her warfen; niemand sah die Person darin, niemand sah ihre Hände, die sich um die Ruder krallten. Sie fragte sich, wie lange sie schon hier draußen war. Minuten? Stunden?
    Der nasse, kalte Atem des Meeres bedeckte ihr Gesicht mit einem feinen Film, und der Mond hatte sich in den Fetzen der Wolken verfangen wie in einem Netz. Sein Licht brach nur manchmal hervor, um die Gischt auf den Wogen zu glänzenden Perlschnüren zu machen, die langsam heranrollten, sich in die Höhe schwangen und wieder in die Tiefe warfen.
    Sie sah ihre Schönheit. Sie sah die Schönheit der Gischt und des Sturms und der Nacht.
    Sie wünschte, er hätte sie mit ihr sehen können, aber er war nicht da.
    Sie sah seine Augen noch vor sich, seinen Blick, sein Gesicht, ganz nah. Zuletzt hatte sie Angst vor ihm gehabt. Aber nur ein wenig, wirklich nur ein wenig. Ihre Zuneigung war größer gewesen als ihre Angst.
    Der Plan war, die Bucht zu erreichen und dort auf dich zu warten, weißt du, auf dich und den Morgen. Es wäre so wunderbar gewesen. Ich hätte mich zwischen die Felsen und den Sanddorn gekauert, und du wärst mit dem ersten Morgenlicht aufgetaucht …
    Aber sage mir, ist das wahr? War der Plan nicht ein ganz anderer?
    Der Plan war, zu leben. Der Plan war, zu lieben.
    Was denn nun?
    Ab und zu tauchte der Steg im Mondlicht auf, unerreichbar fern, und sie sah, wie das Schilf sich in den Böen bog, als streichelte eine riesige Hand die Halme, um sie gleich darauf auszureißen und durch die Luft zu werfen.
    Sie spürte, wie die Kraft aus ihren Armen wich; sie würde die Ruder loslassen müssen.
    Wie sehr sie wünschte, er hätte dort auf dem Steg gestanden, mitten im Chaos der Elemente, und gewinkt! Er stand nicht dort. Sie war ganz allein – allein mit der Nacht und dem Boot und dem Sturm.
    Und dann rollte eine weitere Welle heran und hob das kleine Ruderboot hoch – für Momente sah sie in einer Pfütze vergossenen Nachtlichts die Datschen, die Hecken, die Gärten, den Weg zum Dorf – und sie glaubte, dort einen Schatten zu erkennen, der näher kam.
    Sie versuchte, zu rufen. Komm! Komm und hilf mir!
    Der Sturm riss ihr die Worte vom Mund.
    Und die Welle schleuderte das Boot zurück in die Tiefe. Sie spürte, wie es kippte, oben war unten, und unten war oben, und sie öffnete die verkrampften, schmerzenden Hände. Gab die Ruder frei. Endlich.
    Das Schwarz unter den Wellen nahm sie auf wie eine neue, stille Heimat.
    Sie befand sich unter dem Boot.
    Sie musste auftauchen, musste atmen, musste sich befreien – aber sie konnte es nicht.
    Um ihren Körper lag ein rauer Strick, und der Strick hielt sie fest. Die Leine war nicht lang genug, um mit ihr unter dem Boot hervorzutauchen. Hatte sie sich irgendwo verheddert oder war sie nie lang genug gewesen? Sie versuchte panisch, den Knoten an ihrer Hüfte zu lösen … es musste möglich sein!
    Es war nicht möglich.
    Nicht, solange sie nichts sah. Unter dem Wasser regierte absolute Dunkelheit, noch absoluter als draußen in der Nacht. Sie hatte die Welt der Farben und des Lichts verlassen.
    Sie dachte an den Schatten auf dem Weg, einen Schatten, der näher gekommen war. Eine letzte, winzige Hoffnung. Oder hatte sie sich den Schatten nur eingebildet?
    Auf dem Grund des Meeres lauerte ein großes, kaltes Ding und rief nach ihr.
    Manche Leute nannten es den Tod.
    Was wird das Letzte sein, das ich denke?
    Wenn ich keine Luft mehr bekomme, wenn das Wasser meine Lungen füllt, dann, ganz zum Schluss?
    Ich möchte an etwas Schönes denken. Alles hier ist schwarz, ich möchte die Farbe Weiß denken.
    Apfelblüten sind weiß.
    Im Mai, hast du gesagt, blüht der Apfelbaum auf dem Friedhof, und seine Blüten sind weiß wie Schnee … Ich möchte an dich denken, wie du da stehst, unter dem Apfelbaum, mitten im weißen Wirbeln der Blüten. Das wird das Letzte sein.

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    Was war das Erste?
    Das Erste, an das sie sich später erinnerte, war das weiße Wirbeln der Blüten.
    Apfelblüten, die vor dem Blau des Himmels durch die Luft segelten,
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