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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition)
Autoren: Antonia Michaelis
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Rändern unter den Nägeln suchte. Aber natürlich grub ein Totengräber nicht mit den Händen in der Erde, er benutzte eine Schaufel, und vielleicht nicht einmal das, dachte Siri, vielleicht gab es heutzutage hochtechnische Geräte zum Ausheben des Erdreichs, die den Boden später auf Knopfdruck mit einer Rüttelplatte verdichteten, Düngemittel und Rosensamen in vorgestanzte Löcher spritzten …
    Sie zuckte zusammen, als der Mann ihre Hand schüttelte. Seine Hand war so viel größer als ihre.
    »Fuhrmann«, sagte er. »Lenz Fuhrmann.«
    »Siri«, sagte sie. »Siri Pechton.«
    Keiner von ihnen sagte »Angenehm«.
    Siri ging einmal um die Kirche herum und machte ihre eigenen Fotos von den Fensteröffnungen. Nur die Stirnfenster waren mit Brettern vernagelt, die vier schmalen Seitenfenster waren durch einfaches Glas ersetzt worden. Zwischen den Gräbern saßen zwei dicke Kaninchen und grasten. Hieß es bei Kaninchen »grasen«? Aus irgendeinem Grund fiel Siri das Wort »gründeln« ein.
    Die Sonne lag im Gras, Siri fand einzelne violette Krokusse und bückte sich, um über ihre zarten Blätter zu streichen. Es war hübsch hier, wirklich, ein hübscher Friedhof in einem hübschen Dorf. Idyllisch.
    Aber sie spürte den grauen Steinblick des Totengräbers; er verfolgte jeden ihrer Schritte, während er die Rosen an der Mauer hochband. Und sie spürte genau, wie sehr es ihm missfiel, dass sie hier war.
    »Also dann«, sagte sie, als sie an ihm vorbeiging, zum Tor zurück.
    Er nickte ihr zu, ohne seine Rosen zu verlassen.
    »Eins noch. Bitte …« Siri zögerte. »Weshalb waren Sie auf der Mauer? Zuerst dachte ich, ich würde ein Kind dort sehen …«
    »Es wird kühl«, sagte er schroff. »Das ist der Wind. Sie sollten machen, dass Sie in Ihre Ferienwohnung kommen.«
    Sie trat durch das Tor nach draußen und legte ihre Hand auf die Kühlerhaube des alten Golfs. Das Metall war warm von der Sonne, warm und freundlich, aber es stimmte: Der Wind im Dorf war kalt. Ein Stück weit entfernt lag etwas. Etwas Schwarzes.
    Schuhe, dachte Siri, Kinderschuhe. Sonntagsschuhe, Vorzeigeschuhe, steif und unbequem. Die Schnürbänder kringelten sich im Sand wie kleine bissige Schlangen. Siri hatte solche Schuhe besessen, als sie sechs oder sieben Jahre alt gewesen war. Sie verstand gut, dass das Kind die Schuhe ausgezogen hatte.
    Aber wo war das Kind?
    Sie ging außen an der Friedhofsmauer bis zu den Schuhen.
    Es waren keine Schuhe da.
    Neben der Mauer lagen nur zwei große dunkle Steine, und was Siri für Schnürbänder gehalten hatte, war nichts als der Schatten einer Efeuranke.
    †   †   †
    Er trat erst ans Tor, als sie fort war.
    Doch die Erinnerung an sie hing noch auf der Straße wie ein vergessenes Bild: die kleine, magere Gestalt in dem geblümten Regenmantel, die Füße in roten Gummistiefeln, das kurze mausbraune Haar ein Zufluchtsort für das Sonnenlicht des Frühlingstages.
    »Siri«, sagte er leise. »Siri Pechten.«
    Er sah ihr Gesicht noch vor sich, das zu ihm aufblickte. Er wischte die Erinnerung an ihr Gesicht fort. Sie war nur irgendeine Frau mit irgendeinem Gesicht. Einem zu spitzen Gesicht übrigens, um es hübsch zu nennen. Sie würde wieder gehen. Bald.
    Hoffentlich.
    Er schüttelte den Kopf und ging zurück auf den Friedhof. Der Apfelbaum rief ihn, und er stellte sich unter seine knorrigen Äste und schloss die Augen.
    Denn dies war der Tag .
    Er hatte es gleich gewusst, als er auf die Mauer geklettert war, er hatte es gespürt – und als die fremde Frau mit dem Gesicht und dem Namen plötzlich vor der Kirche gestanden hatte, da hätte er am liebsten auf einen Knopf gedrückt, der sie einfach löschte. Er konnte keine Fremden in seinem Leben brauchen, an diesem Tag am allerwenigsten.
    Dies war der Tag, an dem die Apfelblüten fielen.
    Lenz spürte ihr schwereloses Weiß auf seinem Gesicht. Er öffnete die Augen wieder; sah den Blütenblättern nach, die sich sanft auf seine Schuhe legten; graue abgewetzte, erdige Stiefel, die Schnürsenkel mehrfach gerissen und wieder verknotet. Man sah sie kaum noch im weißen Wirbeln der Blüten, sie bedeckten das Grau wie Flocken.
    Er lächelte und hob eine Handvoll Blüten auf. Sie waren so leicht, als existierten sie gar nicht. Maiblüten. Der Mai, dachte Lenz, war der März der Gegend, das Frühjahr begann später hier, es kam mit einer kleinen, aber entscheidenden Verzögerung ans Ende der Welt, genau wie alles andere. Der Strom war später gekommen, die
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