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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition)
Autoren: Antonia Michaelis
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Glasfenstern. Wie mit der Wahrheit.
    Es kam auf den Standpunkt des Betrachters an.
    †   †   †
    Lenz befreite die Gräber an diesem Tag vom dunklen schützenden Tannengrün, eines nach dem anderen; er kniete auf der Erde und legte unendlich vorsichtig eine grüne Spitze nach der anderen frei. Bei dem Grab mit dem steinernen Schneehuhn fand er die ersten Triebe der Maiglöckchen. Er verjagte das Kaninchen, das daran schnupperte.
    »Karnickel fressen keine Maiglöckchen«, knurrte er. »Scher dich weg, sonst endest du in der Pfanne.«
    Das würde es ohnehin, dachte er, es war eines von Aljoschas Kaninchen. Sie hatten sich nie sonderlich um Aljoschas Zaun geschert, aber sie waren dumm genug, jedes Mal zurückzukommen und sich von Aljoscha umbringen zu lassen. Aljoscha tötete sie, indem er sie an den Hinterbeinen hielt und mit dem Kopf gegen die Hauswand schlug. Manchmal musste er mehrmals ausholen, weil sie beim ersten oder zweiten Mal nicht ganz tot waren. Lenz hatte es als Kind gesehen. Später, zu Hause, hatte er sich übergeben.
    Das Schneehuhn hatte Moos angesetzt. Er fuhr mit dem Finger darüber und fühlte, wie weich und freundlich es war, und er erlaubte dem Schneehuhn, seinen lebendigen Mantel zu behalten.
    Er dachte an die fremde Frau, während er an den Beeten arbeitete.
    Siri Pechten. Welcher vernünftige Mensch, bitte, hieß Siri? Welcher vernünftige Mensch kam in ein gottverlassenes Dorf, um neue Fenster für irgendeine gottverlassene Kirche zu machen?
    Die Gewissheit, dass die fremde Frau jeden Moment hier auftauchen konnte, legte ihm einen Ring aus Eisen um die Stirn, und sein Kopf pochte schmerzhaft, als hätte er zu lange einen Punkt fixiert – so wie Winfried, wenn er stundenlang dasaß und eine Buchseite anstarrte, ohne umzublättern.
    Winfried starrte nur mit dem linken Auge. Das rechte sah seit Langem nichts mehr, es war aus Glas.
    Lenz brach eine Rosenknospe ab, um sie Winfried mitzubringen.
    Es war Winfried natürlich unmöglich, zuzugeben, dass er Rosen mochte. Es war ihm mit den Jahren unmöglich geworden, zuzugeben, dass er überhaupt etwas mochte. Manchmal fragte sich Lenz, ob er irgendwann so werden würde wie Winfried, ob er, mehr noch, Winfried werden würde, wenn Winfried eines Tages starb.
    Winfried hatte sich um den Friedhof gekümmert, ehe er den Schlaganfall gehabt hatte.
    Damals war er der Totengräber gewesen und Lenz nichts als ein kleiner Junge, der ihm überallhin folgte wie eine hungrige Katze. Hunger hatte er genug gehabt in seinem Leben, aber heute war alles umgekehrt, die Armen waren dick und die Reichen dünn, und zweimal die Woche fuhr der Konsum-auf-Rädern durchs Dorf. Die alte Speisekammer neben der Küche hatte an Wichtigkeit verloren, weil sie nie mehr leer war.
    Damals, im ersten Frühjahr, in dem er die Apfelblüten bemerkt hatte, hatten sie sich in der Speisekammer versteckt, und sie war leer gewesen. Sie hatten sich auch in der Speisekammer von Iris’ Eltern versteckt, in der Datsche. Dort hatte die Speisekammer unter einer Bodenluke gelegen.
    Es hatten Kartoffeln dort gelagert, das wusste er noch.
    Wenn er die Augen schloss, konnte er Iris wieder neben sich spüren. Wie nah sie ihm gewesen war, damals, unter der Bodenluke! Er hatte ihren Atem auf seiner Wange gespürt und ihre verschwitzte Hand, die seine drückte. Wenn meine Eltern uns nicht finden , sagte diese Kinderhand, dann ist alles gut. Sie hatten sie natürlich gefunden.
    Es war zweiunddreißig Jahre her.
    Er hörte jetzt andere Stimmen und öffnete die Augen. Da kamen sie also, die Leute.
    Auch sie spürten den Frühling und waren aus ihren Löchern gekrochen. Er kniete noch immer in der duftenden, schwerschwarzen Erde, als sie über den Friedhof ausschwärmten.
    Er sah sie Gießkannen füllen und Gräber gießen, sah sie ein paar Kaninchen fortscheuchen. Sie alle hatten ihre anverwandten, angeheirateten, angeborenen Gräber, deren Erde sie ab und zu anfallsweise gossen. Aber ohne Lenz wären die Blumen längst eingegangen.
    Schließlich kamen die Leute herüber, nickten ihm zu und sagten Belangloses über das Wetter. Er sah die Distanz in ihren Augen wie einen Schleier. Sie hatten, das wusste er, Angst vor ihm.
    An diesem Tag war er zum ersten Mal versucht, Fragen zu stellen.
    Was ist damals wirklich passiert? Vor zweiunddreißig Jahren? Was ist es, das ihr von mir glaubt?
    Er fragte nicht.
    Frau Henning schob einen Schein in die Tasche seiner alten Jacke und murmelte, wie schön er die
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