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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition)
Autoren: Antonia Michaelis
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aufgenommen hatte, weil er das Kind seines Bruders war. Hier gibt es keine Kinder, hatte Winfried gesagt, und doch behandelte er Lenz wie ein Kind. Friedhofskind. Wer hatte ihm diesen Namen gegeben? War es Winfried gewesen?
    Draußen stand der junge Kaminski und hatte sein Hundeknurren eingestellt. Er stützte sich auf zwei Krücken.
    »Der Hund hat eine lahme Pfote«, murmelte Lenz, so leise, dass der Hund es nicht hörte. »’n Abend«, sagte er, lauter.
    Er sah den Hund schlucken. Der Hund hatte den Schwanz eingezogen. »Ich bin gekommen, um mich zu entschuldigen«, sagte er, ohne Lenz anzusehen. »Letzte Woche … auf dem Friedhof … ich war blau, ja? Völlig blau. Ich … wir … wir hätten nicht über dich lachen sollen. Ich habe keine Ahnung, was ich gesagt habe …« Seine Sätze kamen stockend. Er hatte offenbar sehr wohl eine Ahnung, was er gesagt hatte. Lenz wollte die Worte nicht wiederholen; Worte, die der junge Kaminski und seine Freunde in ihren Bierflaschen gefunden hatten, wo sie im bräunlichen Schaum vor sich hin rotteten. Ein Wort hatte ihn am meisten getroffen, ein Name: Iris.
    Erzähl mal, Friedhofskind, damals, wie hast du es mit der kleinen Iris ge–
    »Und warum kommst du jetzt?«, fragte er. »Und was hast du mit deinem Bein angestellt?«
    »Das weißt du ganz genau.«
    »Nein«, sagte Lenz.
    »Du willst, dass ich es sage, hm? Ich bin vom Dach gefallen. Das Bein ist an zwei Stellen gebrochen.«
    »Bist nicht so gut mit Dächern, wie dein Vater es war, was? Warum bist du da raufgeklettert? Jeder weiß, dass du nicht schwindelfrei bist.«
    Kaminski sah wieder weg. »Hab was repariert.« Dann sah er sich um, und Lenz folgte seinem Blick. Auf der anderen Seite des Weges, im Schatten der Büsche, stand eine kleine, gedrungene Gestalt.
    »Da wartet wer, ja?«, meinte Lenz. »Du bist nicht von dir aus gekommen.«
    »Die Alte«, sagte Kaminski sehr leise, »die hat Schiss gekriegt. Hat mich hergeschickt, damit ich mich entschuldige.«
    »Und du?«
    »Ich? Ich hab keinen Schiss, ich nicht. Ist doch alles nur Gerede. Ich glaub nicht, dass du so was kannst.«
    »Dass ich was kann?«
    »Ich hab mich entschuldigt«, sagte Kaminski, lauter jetzt, damit seine Mutter es hörte. »Mehr kann ich nicht machen. Und ich soll noch sagen, das Grab vom Alten … du pflegst das sehr schön.«
    »Wenn du mir jetzt Geld gibst, schlag ich dir die Krücken weg.«
    »Was?«
    »Du hast mich schon verstanden«, sagte Lenz und schloss die Haustür.
    »Vom Dach gefallen«, wiederholte er.
    »Leute haben Unfälle«, sagte Winfried hinter ihm. »Leute, die dem Friedhofskind blöd kommen. Immer so gewesen.« Dann packte er seine Krücke und zerrte sein seit dem Schlaganfall lahmes Bein zurück in die Küche, vor den Fernseher.
    Und Lenz dachte an die anderen Unfälle. Einer war ein Autounfall gewesen, lange her. Der damals hatte ihn nicht überlebt. Jung war er gewesen, jünger als Kaminski. Lenz hatte nicht um ihn getrauert. Das war die Geschichte mit Aschenputtel gewesen, Aschenputtel und dem gelben Kleid und einer Szene an einer Bushaltestelle, an die er sich niemals freiwillig erinnern würde. Er schob die Geschichte von sich weg.
    Tot war tot.
    †   †   †
    Siri erwachte nachts, in absoluter Schwärze, lag eine Weile still und lauschte.
    Sie hatte geträumt.
    Im Traum war sie auf der Friedhofsmauer entlangbalanciert, hinter sich den Totengräber, der lange Schatten seiner riesigen Gestalt war auf sie gefallen und hatte die Sonne ausgeschlossen. Sie war nicht sicher gewesen, ob er sie verfolgte oder ob sie ihn führte, im Traum sind diese Dinge unklar. Um sie herum hatte es Blütenblätter geregnet, doch dann hatte sie gesehen, dass es Glasscherben waren. Die Scherben bunter Fenster. Sie hatte nichts mehr gesehen in diesem Scherbenregen, sie spürte noch, wie sie danebentrat, wie sie panisch mit den Armen ruderte – wie sie fiel.
    Sie hatte mit dem Schal im Arm geschlafen wie mit einem Stofftier. Jetzt drückte sie ihn an sich und atmete seinen vertrauten Duft tief ein.
    Aber es half nicht.
    Da war etwas; etwas war hier, in der dickflüssigen Schwärze des Zimmers. Sie tastete nach dem Schalter der Nachttischlampe und fand ihn nicht. Es war eine Art unbestimmte Präsenz. Etwas Lebendiges.
    »Hallo?«, flüsterte sie mit zitternder Stimme. »Ist da jemand?«
    War das ihr eigener Atem, den sie hörte? Oder war da der Atem einer zweiten Person im Raum?
    Die Schwärze gab nichts preis.
    »Lenz Fuhrmann«,
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