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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition)
Autoren: Antonia Michaelis
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von einem Windstoß erfasst, um sich leise ins Gras zu legen wie Flocken. Die Schatten lagen zwischen den Flocken wie die schwarzen Bleistege von Glasfenstern.
    Sie lächelte und hob eine Handvoll Blüten auf. Sie waren so leicht, als existierten sie gar nicht.
    Schließlich legte sie den Kopf in den Nacken und sah zu der kleinen Kirche empor.
    Natürlich stimmte es nicht; das Erste, was sie vom Dorf gesehen hatte, waren nicht die Blüten gewesen, sondern die unbefestigte Sandstraße mit dem Ortsschild, aber die Blüten würden ihr erster Eindruck bleiben, sie fühlte es.
    Sie streute sie zurück in den Wind, dem sie gehörten, atmete tief ein und zog ihren Schal ein wenig enger. Die Mailuft war scharf wie eine Fotografie des Winters.
    »Hey«, sagte sie laut. »Hier bin ich. Ich. Bin. Hier.«
    Die Kirche antwortete nicht, die Grabsteine des alten Friedhofs schwiegen, und nur der Wind sang in den Zweigen über ihr. Sie watete durch die weiße Gischt aus Blüten und legte eine flache Hand auf das alte Holz der verschlossenen Kirchentür. Dort, wo die Sonne auf das Holz fiel, begann es, sich kaum merklich zu erwärmen.
    »Hey«, sagte sie noch einmal – zu der Kirche, zu den Gräbern, zum Wind. »Mein Name ist Siri. Siri Pechton. Ich werde bis zum Herbst hierbleiben.« Es war bisweilen notwendig, die Dinge laut zu sagen, um sich sicher zu sein. »Ich bin gekommen, um die Fenster zu machen. Neue Fenster. Für die Kirche. Da sind eine Menge Schatten in diesem Dorf. Aber ich habe keine Angst vor Schatten. Ich mache Fenster. Fenster sind dazu da, das Licht hereinzulassen.«
    Sie sah das Licht an. Es hatte sich auf dem Ärmel ihres geblümten Regenmantels niedergelassen wie ein Schmetterling. Den geblümten Regenmantel machte es schön, schön wie die weißen Apfelblüten. Es machte auch ihre roten Gummistiefel schön und vielleicht sogar ihr kurzes mausbraunes Haar. Sie strich durch dieses Haar, als könnte sie das Licht anfassen.
    Würde das Licht auch ihre Kirchenfenster schön machen?
    Die Kirche war winzig und alt, eine Kirche ohne Turm; die Mauern aus großen, groben Feldsteinen zusammengesetzt. Die Glocke hing in einem klobigen hölzernen Glockenstuhl neben dem Gebäude. Die runde Fensteröffnung über der doppelflügeligen Tür war mit Spanplatten zugenagelt.
    Siri zog ein Foto aus der Tasche des geblümten Regenmantels. Darauf war das ehemalige Fensterglas noch zu sehen, aber das Foto war schwarz-weiß, und die Farben würden für immer ein Geheimnis bleiben. Es war außerdem unscharf und an mehreren Stellen beschädigt. Es war über dreißig Jahre alt. Vielleicht war es älter als Siri selbst.
    Und nicht nur die Farben blieben ein Geheimnis. Auch das Bild, das das Fenster gezeigt hatte. Das Foto war, um ehrlich zu sein, sinnlos.
    Siri steckte es wieder ein und zuckte die Achseln.
    »Ich werde die Leute fragen«, flüsterte sie. »Ich werde schon herausfinden, was auf den Fenstern war.« Sie atmete tief ein und verschränkte die Arme. Die aufgedruckten Blumen auf ihren Ärmeln strahlten im Licht wie ein privater Garten; ein Garten auf dem weißen Grund des Regenmantels; Blüten im Schnee.
    Auf einmal kam sie sich beobachtet vor. Es hatte etwas Merkwürdiges, sich auf einem Friedhof beobachtet vorzukommen. Sie stellte sich etwas gerader hin. Sie wusste, dass sie klein war, sehr klein und sehr dünn für eine erwachsene Person. Es war daher wichtig, gerade zu stehen.
    Natürlich war es Unsinn; niemand beobachtete sie. Die Gräber waren alle hübsch geschlossen und bewachsen, wie es sich gehörte, keine Geister, Untoten oder andere Spukgestalten zu sehen.
    Sie lachte; schüttelte den Kopf über sich selbst.
    Durch das schmiedeeiserne Friedhofstor sahen nur die Scheinwerferaugen des uralten Golf 1 herein, der Siri hergebracht hatte: ein Auto, das auf der Farbskala irgendwo zwischen braungrau und graubraun rangierte. Nicht einmal das kalte, klare Licht konnte dieses Auto schön machen, aber es beruhigte sie, es in der Nähe zu wissen. Der Golf war wie ein freundliches stummes Haustier. Er hatte sie und ihr Gepäck klaglos bis hierher getragen, und nun stand er vor der Kirche und wartete darauf, dass es Herbst wurde, damit sie wieder abfahren konnten.
    Sie würde ihn umparken, ihn vor der Ferienwohnung abstellen. Vor der Kirche störte er. Man kann ein Auto nicht überallhin mitnehmen wie einen Talisman, es ist einfach zu unhandlich.
    Sie kam sich noch immer beobachtet vor.
    Sie wandte den Kopf.
    Und da sah sie etwas
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