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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition)
Autoren: Antonia Michaelis
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Wasserleitungen waren später gekommen, und die letzten dicken Oberleitungen spannten sich noch immer durch die Luft wie seltsame Kunstwerke. Selbst der Krieg war damals später gekommen, und die Wende hatte zwischen ’92 und ’93 stattgefunden. Wenn überhaupt.
    »Lenz!«
    Er fuhr herum, und dann hörte er ein Lachen, ein helles Kinderlachen.
    Sie war also da. Wie jedes Jahr. Sie tauchte immer am ersten Tag des Frühlings auf. Er fühlte, wie die Freude über ihr Auftauchen sich in ihm ausbreitete, hell und leicht.
    »Wo bist du?«, rief er und drehte sich um seine eigene Achse. Nur zwei Kaninchen liefen zwischen den Grabsteinen hindurch. »Wo?«
    Da trat sie aus einer Nische in der Mauer, aus den Efeuschatten, und in ihren Augen blitzte der Schalk.
    »Hast du mich nicht gesehen?«, rief sie. »Blindfisch! Komm!«
    Und dann stieß sie sich von der Mauer ab und rannte – an ihm vorbei, durch das niedrige hintere Friedhofstor, über die Felder, in Richtung Meer. Ihr blaues Kleid hatte die Farbe des Himmels. Es flog in leichten Falten um ihre dünnen Beine, als sie weiterrannte. Einmal blieb sie stehen und winkte ihm mit ihrer kleinen, blassen Hand: Kinderlachen, Kinderbeine, Kinderhand.
    Sie war sechs oder sieben Jahre alt, ganz sicher war er sich nie.
    Er war jetzt einundvierzig.
    Er holte sie erst beim Steg unten ein. Sie saß dort, ganz vorne, und ließ ihre bloßen Zehen ins Wasser hängen.
    »Brrr«, sagte sie und schüttelte sich. »Eisig. Du bist langsam. Der Winter war zu lang, was? Hast du die ganze Zeit vor dem Ofen gesessen und deine Knochen einrosten lassen?«
    »Nein«, sagte er. »Aber er war zu lang, der Winter, das stimmt.«
    Auch er zog Schuhe und Strümpfe aus. Seine Beine waren so viel länger als ihre. Er krempelte die Hosen hoch.
    »Wo bist du gewesen?«, fragte er. Er fragte sie jedes Jahr von Neuem. »Ich habe an dich gedacht … wo bist du gewesen?«
    Sie legte nur mit einem Lächeln den Kopf schief und sah ihn an, ihre Augen blau wie ihr Kleid.
    »Jetzt bin ich da«, sagte sie, »das ist wohl genug.«
    Sie nahm seine Hand; er spürte ihre zerbrechlichen Kinderfinger in seinen, und sie blickten gemeinsam in die Frühlingswolken hinauf. Ja, er war einundvierzig, aber wenn er mit ihr um die Wette rannte, mit ihr auf Mauern balancierte, mit ihr am Steg saß und in die Wolken sah, war er wieder ein Kind. Jedes Jahr von Mai bis Oktober.
    Lenz fragte sich, ob die Fischer draußen ihn hier sitzen sahen.
    Natürlich sahen sie ihn.
    Da sitzt er, sagten sie zueinander, schau an, die Apfelblüten sind also vom Friedhofsbaum gefallen, der Frühling hat angefangen, und jetzt kann man ihn wieder mit diesem irren Ausdruck in den Augen herumlaufen sehen, als könnte er hinter den Dingen eine Welt sehen, die uns verborgen bleibt.
    Nein, dachte er, das sagten sie nicht zueinander, das fühlten sie nur. Sagen taten sie »Guck!« Und »Dort!« Und »Ach so. Das Friedhofskind.«
    Und sie schüttelten sich, wenn sie das sagten. Denn sie hatten Angst. Sie hatten immer Angst vor ihm gehabt. Es gab Momente, da dachte er, dass sie vielleicht recht damit hatten, sich zu fürchten. Er erinnerte sich ungern, er schob die Erinnerung gewöhnlich von sich fort. Er hatte sie dreißig Jahre lang fortgeschoben.
    Sie lehnte sich an ihn, und er spürte das sachte Kitzeln ihres langen hellen Haars an seinem Hals. Sie roch nach einer Mischung aus Seife, frischem Gras und – aus irgendeinem Grund – Tomatensoße.
    »Da oben möchte ich mal fliegen«, flüsterte sie. »Mit diesen Wolken.«
    »Ja«, wisperte er. »Ganz weit weg von all diesem Kram hier unten.«
    »Aber du musst immer zurück zu dem Kram«, sagte sie voller Kinderernst.
    »Sieht so aus.«
    Sie saßen lange so da, auf dem Steg, so lange, bis sie froren, und da drückten sie sich eng aneinander und saßen noch ein Weilchen länger so.
    »Da ist eine fremde Frau«, sagte Lenz. »Im Dorf.«
    »Ja«, sagte sie. »Ich habe sie gesehen.«
    »Sie macht neue Fenster«, sagte er und sah zum wässrigen Horizont hinaus, »für die Kirche. Weiß der Teufel, aus welchem Ärmel der Kirchenverein sie gezogen hat. Sie hat keine Ahnung, wie die alten Fenster ausgesehen haben. Sie wird die Leute fragen, hat sie gesagt.«
    »Hast du Angst?«
    »Angst? Ich?« Er schüttelte den Kopf, lachend, aber er merkte selbst, dass sich das Lachen nicht ganz echt anhörte. »Es ist nur … gestern gehörte der Friedhof mir noch allein. Mir und den Toten. Die Besucher waren immer nur auf
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