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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition)
Autoren: Antonia Michaelis
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Besuch. Aber diese Frau wird da herumlaufen, herumschnüffeln, herumsuchen …«
    Er spürte den forschenden Blick der blauen Kinderaugen auf sich.
    »Du hast doch Angst«, sagte sie, und natürlich hatte sie recht, denn irgendwann würde die fremde Frau auf die Vergangenheit stoßen, die er seit dreißig Jahren verdrängte.
    Sie stand auf und strich ihr blaues Kleid glatt.
    »Iris …«, begann er.
    Aber sie schüttelte den Kopf. »Nenn mich nicht so.«
    »Du heißt so.«
    »Ich weiß«, sagte sie, »aber ich mag es nicht, wenn ich heiße. Wenn du mich beim Namen nennst, ist das wie ein Abschied. Ein endgültiger Abschied. Wer noch da ist, braucht keinen Namen.«
    Und dann drehte sie sich um und rannte über den Steg davon. Als er den Weg erreichte, der zum Dorf zurückführte, war sie verschwunden. Wie so oft.
    Sie würde zurückkommen. Er durfte nur ihren Namen nicht zu laut sagen.

2
    Die Ferienwohnung lag unter der Erde wie ein Kaninchenbau.
    Man betrat sie über eine kleine Treppe, deren Betonstufen an den Kanten abbröckelten, und wenn man in dem engen Flur stand, gab es nichts als Schwärze; dichte, fassbare Schwärze, Schwärze wie ein atmendes Lebewesen.
    Der Lichtschalter befand sich links, und die Lampe flackerte zuerst, wenn man sie anmachte.
    »Früher hat mein Mann das gemacht mit den Lampen und so«, sagte Frau Hartwig. »Aber der ist seit sieben Jahren unter der Erde. Manchmal kommt der Umbrich vorbei und repariert was brauchen Sie Bettwäsche da drüben ist die Tür zu dem zweiten Raum wozu brauchen Sie den?«
    »Als Werkstatt«, antwortete Siri. »Danke. Ich habe Bettwäsche. Ich komme jetzt alleine klar.«
    »Alleine. So«, sagte Frau Hartwig und fügte plötzlich Punkte und Kommata in ihre Rede ein, Kommata und Punkte schlecht verborgener Enttäuschung. »Ich sag Ihnen eines, junge Frau: Ganz alleine … ganz alleine kommt keiner klar.«
    Aber sie ging.
    Siri stand einen Moment in dem schmalen Kellerflur und atmete die abgestandene Luft ein, eine Sorte Luft voll ungedachter Gedanken. Dann begann sie, ihre Sachen die Treppe hinunterzutragen. Frau Hartwig hatte ihre Augen oben hinter einem Fenster platziert, um sie zu beobachten. Die Spitzenvorhänge bewegten sich leicht, und Siri winkte ihnen.
    Sie trug einen Karton mit Geschirr an Frau Hartwigs Augen vorbei, einen großen Rucksack und einen Arm voll Tulpen, die sie auf dem Weg hierher gekauft hatte. Eine halbe Stunde später saß sie auf dem Bett und sah sich um.
    Der Raum war ein anderer geworden.
    Auf dem Sperrholzschrank thronte eine bauchige weiße Teekanne mit blauen Blümchen, die Tassen und Teller um sich geschart hatte wie eine Glucke ihre Küken. Das Bett verbarg sich unter einem bestickten Überwurf, auf dem Tisch standen in einer Glasvase die Tulpen, und auf den Brettern der halb unter der Erde liegenden Fensterschächte lag eine Sammlung an weißen Muscheln. Unter der Matratze verbarg sich ein unauffälliger kleiner Vorrat schwarzer Schokolade.
    Siri atmete den Duft der Tulpen tief ein. Sie war angekommen.
    Dann ging sie noch einmal nach draußen, um die beiden Koffer hereinzutragen, die ihre Werkstatt enthielten. In dem größeren, sehr schweren, befand sich der Brennofen, eigentlich gemacht für Emaillierungen von Schmuckstücken. Die Hitze, die er entwickelte, um die bemalten Einzelgläser zu brennen, war tödlich. Aber sie blieb gut gesichert hinter der Tür mit dem Sichtfenster … Siri pfiff vor sich hin, gab der Kühlerhaube des alten Golfs einen freundschaftlichen Klaps – und hielt inne.
    Da klemmte etwas unter dem Scheibenwischer.
    Etwas, das noch nicht dort geklemmt hatte, als sie die Teekanne und die Tulpen geholt hatte. Ein gefaltetes Stück Papier. Sie sah die Straße hinauf und hinab, die Straße, die nicht mehr war als ein Sandweg voller Schlaglöcher. Es war niemand da. Irgendwo hinter ihr warteten Frau Hartwigs Augen. Vielleicht war der Zettel von ihr. Vielleicht stand etwas darauf wie: Brauchen Sie noch Handtücher? Siri befreite den Zettel. Die Schrift sah eilig aus; Tinte, ein wenig verschmiert …
     
    Gehen Sie nach Hause.
    Keiner wird Ihre Fragen beantworten. Die Vergangenheit schläft.
    Lassen Sie sie schlafen.
    Gehen Sie nach Hause, solange Sie noch können.
    Wer mit dem Friedhofskind spricht, lebt gefährlich.
    Da war keine Unterschrift.
    Sie atmete tief ein und ging die Stufen zur Ferienwohnung hinunter. Die schwere Dunkelheit war in den Flur zurückgeschwappt. Wer hatte das Licht ausgemacht? Siri
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