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Lesereise New York

Lesereise New York

Titel: Lesereise New York
Autoren: Sebastian Noll
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Rückkehr nach New York
Ein Blick durch das falsche Ende des Teleskops
    Es hat lange gedauert, bis ich es über mich gebracht habe, einen Blick in die Nummer 315 Bowery zu wagen. Sechs Jahre genau.
    Im Jahr 2006 hatte Hilly Kristal hier zum letzten Mal die Rollgitter vor seinem legendären Punk-Club CBGB heruntergelassen, jenem modrigen, düsteren Gewölbe, in dem die Karrieren der Ramones, von Blondie, Television, den Talking Heads und Patti Smith begonnen hatten.
    Doch 2006 war es Zeit geworden für das CBGB , es war hier auf der Bowery schon lange ein Fremdkörper. Das »Flop House« im zweiten Stock, ironischerweise »Palace Hotel« genannt, wo obdachlose Männer weiland für ein paar Dollar auf einer Matratze ihren Rausch ausschlafen konnten, war schon lange den Büros einer städtischen Behörde gewichen. Die Bowery, einst ein Symbol urbaner Verelendung, hatte sich in einen schicken Amüsier- und Shopping -Bezirk verwandelt. Statt von Pennern war die Straße von überschminkten jungen Damen bevölkert, die zu viel »Sex and the City« gesehen hatten. Sie flanierten after work die Bowery auf und ab, stets auf der Suche nach neuen Schuhen und der Begegnung mit Mr. Big.
    Nun also, an einem schwülen Hochsommertag im Juli 2012, traute ich mich, nachzuschauen, was aus dem CBGB geworden war. Es war eine überaus verwirrende Erfahrung, der dunkle Raum konnte sich nicht so recht entscheiden, was er sein wollte. Im vorderen Teil wurden in einem breiten Regal Schallplatten aus gutem alten Vinyl angeboten, die blanke Ziegelwand war mit Konzertpostern aus den siebziger und achtziger Jahren übersät – Iggy Pop, The Police, Tom Petty and the Heartbreakers. In der Mitte stand rechter Hand eine kleine Konzertbühne, komplett mit spielbereiten Instrumenten. Man konnte meinen, gleich komme Joey Ramone in seiner Lederjacke aus der Kulisse und schreie noch einmal »I don’t want to go to the basement« ins Mikrofon. Sogar der alte Flipperautomat stand noch in der Ecke. Doch wenn man tiefer in das Dunkel des Raumes eindrang, wich das Musikinventar Kleiderständern mit hochpreisiger Herrenmode – Ledersakkos zu zweitausendfünfhundert Dollar, Punkstiefel mit Nietenbesatz zu dreihundertvierundachtzig, Designerjeans ab hundertfünfundachtzig.
    Nach dem Tod von Hilly Kristal im Jahr 2007 hatte der Designer John Varvatos die Nummer 315 Bowery übernommen, nicht freilich, ohne seinem Vormieter Tribut zu zollen. Sogar eine Originalwand des CBGB mit einer Fünffachschicht an Aushangzetteln von Konzertankündigungen bis zu Untermietgeboten hatte Varvatos hinter einer Plexiglasscheibe erhalten. Warum sollte er schließlich nicht vom Ruhm dieser Stätte profitieren, deren wildes Image bestens zu seinem Stil passt.
    Die Erfahrung stimmte mich schwermütig, schockiert war ich jedoch nicht. Denn die Varvatos Boutique an der Bowery war die perfekte Metapher für das, was in New York passiert ist, seit ich Ende der achtziger Jahre erstmals als Student hierherkam.
    Damals, in den Semesterferien 1990, absolvierte ich ein Praktikum bei einem Buchverlag im brandneuen Bertelsmann-Wolkenkratzer am Times Square. Der Glasturm war seinerzeit ein Unikum an der berühmten Kreuzung von Broadway und Seventh Avenue – das erste Gebäude dessen, was heute als der neue Times Square gilt.
    Den Weg von der U-Bahn ins Büro legte man damals am besten hastigen Schrittes zurück, den Blick starr nach vorne gerichtet. Die 42nd Street war selbst am frühen Morgen ein eher unangenehmes Pflaster. Junkies und Bettler saßen auf dem Bordstein, Prostituierte buhlten rund um die Uhr um Kundschaft. Pornokinos wechselten sich mit Peepshows ab, im U-Bahn-Schacht roch es nach Urin und Schlimmerem. Das geografische Zentrum der wichtigsten Metropole des 20. Jahrhunderts war ein Sumpf von Elend und Schmuddel.
    Es gab damals sicher niemanden in New York, der nicht wollte, dass hier etwas passiert. Mit dem, was aus dem Times Square inzwischen geworden ist, ist allerdings auch kaum ein New Yorker glücklich. Wer nicht dort arbeiten muss oder eine Karte für eine Vorstellung im umliegenden Theaterdistrikt hat, sucht die Gegend unter allen Umständen zu meiden.
    Der Times Square ist heute ein Themenpark für die rund zweiundfünfzig Millionen Touristen, die jährlich die Stadt überfluten. Er erfüllt willig ihre Erwartungen an das pulsierende Herz New Yorks. Die blinkenden, funkelnden Neonreklamen an den Fassaden der neuen glänzenden Wolkenkratzer versprechen das, was sich jeder
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