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Friedhofskind (German Edition)

Friedhofskind (German Edition)

Titel: Friedhofskind (German Edition)
Autoren: Antonia Michaelis
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flüsterte Siri. »Verschwinden Sie. Ich lasse mir von Ihnen keine Angst einjagen.«
    Aber sie hatte Angst; natürlich hatte sie Angst. Sie ahnte den Umriss der riesigen Gestalt im Raum mehr, als dass sie ihn sah. Er rührte sich nicht, stand nur da und sah auf sie hinunter.
    »Ich schreie«, sagte sie. Der Satz klang kläglich. Lächerlich. Dumm.
    Er antwortete nicht, atmete nur, ein und aus, im Gleichklang mit ihrem eigenen Atem. In diesem Moment ging draußen ein Licht an, und Siri erschrak so sehr, dass sie wirklich schrie. Die blasse Helligkeit der Hoflampe floss ins Zimmer, kroch über den Boden und überzog die Möbel mit einem fahlen Glanz. Auf dem Regal schlief die freundliche Teekanne mit den Streublümchen. Auf dem Tisch schliefen die Tulpen und auf den Fensterbrettern die Muscheln.
    Es war niemand im Zimmer. Niemand außer ihr.
    Sie schüttelte sich, versuchte, über sich selbst zu lachen, und schaffte es nicht ganz. Ihr war eiskalt. Sie griff unter ihr Kissen, brach ein Stück von der Notfallschokolade ab und steckte es in den Mund. Sie bewahrte auch zu Hause einen Vorrat schwarzer Schokolade unter ihrem Kissen auf. In dieser Nacht beruhigte die Schokolade sie nicht. Sie schmeckte nur bitter; sie schmeckte nach der Schwärze der Nacht.
    Siri sehnte sich nach einem schlafendem Körper neben dem ihren, an dem sie sich festhalten konnte.
    Nach jemandem, der murmelte: »Schlaf weiter, Siri. Alles ist in Ordnung. Ich bin ja da.«
    Aber niemand war da.
    Nur ein Schal.
    Schließlich stand sie auf und trat ans Fenster. Oben, auf der nächtlichen Wiese, schliefen unter knorrigen alten Birnbäumen Frau Hartwigs Hühner; die Köpfe unter die Flügel gesteckt, ohne Interesse an den Wahrheiten der Welt. Auch dort stand nirgendwo der Totengräber.
    Wer hatte das Hoflicht eingeschaltet? Vielleicht hatte auch das Hoflicht einen Bewegungsmelder. In diesem Fall war die Frage, wer sich bewegt hatte. Eines der Kaninchen, die hier überall herumrannten? Hinter einem der Birnbäume ragte etwas hervor, etwas Blaues, sie sah es im Licht der Hoflampe.
    Der Stamm war zu schmal, um eine Person zu verbergen. Außer vielleicht … ein Kind.
    Noch etwas Blaues tauchte hinter dem Baum auf: ein Ärmel mit einer blassen Hand. Sie kniff die Augen zusammen: Winkte diese Hand? Oder entsprang auch dies ihrer Phantasie, genau wie die Anwesenheit des Totengräbers?
    Jetzt war alles fort, Hand und Ärmel und Kleiderzipfel. Siri blinzelte.
    »Ich bin hier, um die Kirchenfenster zu machen«, sagte sie laut in die Stille der Nacht. »Sonst nichts. Irgendetwas stimmt mit diesem Dorf nicht, irgendetwas ist hier. In den Schatten. Das ist es, was der Mann vom Kirchenverein mit der Dunkelheit gemeint hat, oder? Deshalb will er, dass ich etwas ändere. Aber ich werde nur so weit fragen, bis ich weiß, was ich für die Fenster wissen muss. Ich habe nichts mit den Geschichten dieses Dorfs zu tun, hört ihr? Nichts.«

3
    Sie saß auf einem Grabstein, als Lenz sie das nächste Mal sah, eines von Aljoschas Kaninchen im Arm.
    Er sah von seiner Arbeit auf – er war dabei gewesen, das Unkraut auf einem Grab zu entfernen – und erschrak fast zu Tode, und sie lachte. Es gefiel ihr, aufzutauchen, wenn er am wenigsten mit ihr rechnete.
    »Iris«, sagte er und klopfte sich die Erde von den Händen.
    Diesmal sagte sie nichts darüber, dass sie nicht heißen wollte.
    Sie baumelte nur mit den Beinen und sah ihn an. Ihre schwarzen Schuhe waren voller Schlamm. Die Schuhe waren für die Stadt gemacht. Die weißen Socken waren für die Stadt gemacht, das blaue Kleid war für die Stadt gemacht, ein Süßes-kleines-Mädchen-Kleid. Sie hasste das Kleid, er wusste es.
    Sie streichelte das Kaninchen, woraufhin es sich ihr entwand und weghoppelte.
    »Wohin bist du gestern verschwunden?«
    Sie zuckte die Schultern, kaute am Ende einer Haarsträhne. »Da war diese dünne Frau. Die mit dem geblümten Regenmantel. Ich hatte keine Lust, mir ihr zu reden.«
    »Sie hätte nicht mit dir geredet.«
    »Wer weiß?«, sagte Iris. »Sie war heute Morgen auch da, sie ist um die Kirche herumgegangen und hat Skizzen gemacht. Und weißt du, was sie dabei vor sich hin gemurmelt hat?«
    Er stand auf und lehnte sich neben sie an den Grabstein. »Nein, ich weiß es nicht. Aber du wirst es mir sicher sagen.«
    »Deinen Namen«, sagte Iris. »Sie hat deinen Namen gemurmelt. Ich glaube, sie hat es gar nicht gemerkt, sie war ja mit Zeichnen beschäftigt.«
    »Du hast dich verhört«, sagte er
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