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Die Mondspielerin: Roman (German Edition)

Die Mondspielerin: Roman (German Edition)

Titel: Die Mondspielerin: Roman (German Edition)
Autoren: Nina George
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1
    E s war die erste Entscheidung, die sie alleine traf. Das erste Mal eben, dass sie bestimmte, was zu tun war.
    Marianne beschloss zu sterben. Jetzt. Hier. Da unten in den Wassern der Seine, am Ende dieses grauen Tages.
    Kein Stern war zu sehen. Der Eiffelturm verblasste hinter dunstigem Smog. Paris sonderte ein Rauschen ab, ein ständiges Rauschen, Motorroller, Autos, das Raunen der Metro tief im Bauch der Stadt.
    Das Wasser war kühl, schwarz und sanft. Die Seine würde sie mitnehmen, in einem Bett aus Freiheit und Stille bis ins Meer.
    Tränen liefen ihr die Wangen herab, Perlenfäden aus Salz. Marianne lächelte, während sie weinte. Niemals zuvor hatte sie sich so leicht gefühlt. So frei. So glücklich.
    »Meine Sache«, flüsterte sie. »Meine Sache.«
    Sie zog die mehrfach nachbesohlten Schuhe aus, die sie vor fünfzehn Jahren gekauft hatte. Heimlich, kein Sonderangebot, Lothar hatte mit ihr geschimpft, als er es erfuhr. Dann hatte er ihr das Kleid dazu geschenkt. Zweite Ware, Webfehler, Preisnachlass, ein graues Kleid mit grauen Blumen. Auch das trug sie heute.
    Das letzte Heute. Als sie noch all die Jahre und Jahrzehnte vor sich gehabt hatte, war ihr die Zeit unendlich erschienen. Wie ein Buch, das darauf wartet, geschrieben zu werden, so war ihr das Leben, das noch vor ihr lag, als junges Mädchen vorgekommen. Nun war sie sechzig, und die Seiten waren leer.
    Die Unendlichkeit war wie ein einziger, grauer Tag vergangen.
    Sie plazierte die Schuhe akkurat nebeneinander auf die Bank neben sich. Dann überlegte sie kurz und stellte sie auf den Boden. Sie wollte nicht, dass die Bank dreckig wurde, eine schöne Frau einen Fleck auf ihrem Rock bekam und darüber in Verlegenheit geriet.
    Sie versuchte, ihren Ehering abzuziehen. Es gelang ihr nicht. Sie nahm den Finger in den Mund, schließlich rutschte der Ring ab. Darunter war die Haut hell.
    Auf der anderen Straßenseite des Pont Neuf schlief ein Mann auf einer Bank. Er trug ein schmal gestreiftes Hemd wie ein Fischer, und Marianne war dankbar, dass er ihr den Rücken zukehrte.
    Sie legte den Ring zu den Schuhen. Irgendeiner würde ihn schon finden und einige Tage davon leben können, wenn er ihn versetzte. Ein Baguette, Pastis, ein Stück Speck. Etwas Frisches. Nichts aus dem Müll. Vielleicht noch eine Zeitung, die ihn wärmte.
    »Schluss mit abgelaufenen Lebensmitteln«, sagte sie.
    Lothar hatte ihr die Sonderangebote in den Wochenblattbeilagen angekreuzt. Wie andere das Fernsehprogramm der Woche markieren. Samstag: Wetten, dass …? Sonntag: Tatort. Montag: Paradiescreme mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum. Es wurde gegessen, was angekreuzt war.
    Marianne schloss die Augen.
    Lothar. Für seine Freunde Lotto. Oberstabsfeldwebel der Artillerie, Mutter der Kompanie.
    Lothar Messmann, wohnhaft in Celle, im letzten Haus einer Sackgasse, eine Siedlung wie ein Märklinland, der Jägerzaun direkt am Wendehammer. Ein Mann, dem das Altern gut stand.
    Lothar. Er liebte seinen Beruf. Er liebte sein Auto. Und er liebte den Fernseher. Er saß immer auf dem Sofa, ein Tablett mit Essen vor sich auf dem gekachelten Tisch, die Fernbedienung in der linken Hand, die Gabel in der rechten, den Ton ganz laut, wie es Artilleristen brauchen.
    »Schluss mit Lothar«, flüsterte Marianne.
    Sie schlug sich auf den Mund. Hatte sie jemand gehört?
    Sie knöpfte den Mantel auf. Vielleicht wärmte er noch jemanden, auch wenn sie das Futter so oft genäht hatte, dass es ein unruhiges, vielfarbiges Muster aufwies. Lothar hatte ihr von seinen Reisen nach Bonn und Berlin zur Zentralverwaltung stets die Shampoofläschchen und das Nähgarn aus den Hotels mitgebracht. Kleine Manschetten aus Pappe. Graues Garn, schwarzes, weißes, rotes.
    Wer braucht schon rotes?, dachte Marianne und begann, den hellbraunen Mantel zu falten, Kante auf Kante. So wie sie Lothars Taschentücher gefaltet hatte, die gebügelten Handtücher, Kante auf Kante.
    Nicht einmal im Leben hatte sie Rot getragen. »Die Farbe der Huren«, hatte ihre Mutter gezischt und ihr eine Ohrfeige gegeben, als Marianne als Elfjährige mit einem roten Halstuch nach Hause gekommen war; sie hatte es gefunden, es hatte nach einem blumigen Parfüm gerochen.
    Auf dem Montmartre hatte eine Frau am Rinnstein gehockt. Ihr Rock war hochgerutscht, und sie hatte rote Schuhe getragen. Ihre verweinten Augen waren mit Lidschatten verschmiert. »Nur eine betrunkene Hure«, hatte jemand aus der Reisegruppe gesagt. Als Marianne zu ihr gehen wollte, hatte
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