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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen
Autoren: Sascha Arango
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ihm, um Fisch zu kaufen, eine bosnische Hecke mit ihm zu rauchen und über das Leben zu philosophieren. Dieser netteste und zugleich genialste aller Menschen war ein Fischliebhaber – und er, Obradin Basarić, verkaufte Fisch. Wo war da noch Raum für Zufall?
    Henry hatte Obradin gebeten, seinen Wohnort nicht zu verraten, Obradin hatte es versprochen. Doch dieses geheime Wissen machte ihm zu schaffen. Den meist weiblichen Touristen, die in sein Fischgeschäft kamen, um sich scheu oder unverschämt direkt nach Henry zu erkundigen, log er ins Gesicht, dass hier niemand dieses Namens lebte, dabei hätte er so gern erzählt, dass er mit ihm auf ganz besondere Weise befreundet war. Des Nachts hörte ihn seine Frau Helga im Schlaf oft schreien: Ich kenne ihn! Er ist mein Freund!
    Â»Du machst dir keinen Begriff, wie schrecklich es ist, ein Geheimnis zu haben«, gestand er Henry einmal beim Fliegenfischen. »So ein Geheimnis«, fuhr er fort, »ist ein Parasit. Es ernährt sich von dir und wird immer größer. Es will raus aus dir, es nagt sich durch dein Herz, es will aus deinem Mund, es kriecht durch deine Augen!«
    Henry hatte nur stumm zugehört. »Mach’s wie ich«, schlug er vor, »grab ein Loch und scheiß dein Geheimnis rein. Dann bist du es los und nicht mehr voller Scheiße.« Obradin fand diesen Kommentar eines bedeutenden Schriftstellers unwürdig. Aber Henry hatte nur gelacht und sich den ganzen Tag lang darüber gefreut.
    Heute war Henrys Miene düster, als er ins Fischgeschäft kam. »Mein Freund«, begrüßte er Obradin, »wir haben ein Problem im Dach. Es ist ein Marder.«
    Obradin küsste Henry zur Begrüßung auf beide Wangen. »Ich töte ihn für dich.«
    Â»Nee, lass mal. Martha möchte das nicht. Wie kann man das Vieh fangen?«
    Â»Mit einer Falle. Aber was willst du machen, wenn du ihn gefangen hast?«
    Â»Ich setze ihn irgendwo aus.«
    Â»Er wird wiederkommen, weil er nun weiß, dass du ihn nicht tötest.«
    Â»Okay. Wenn ich ihn gefangen habe, bringe ich ihn zu dir, und du tötest ihn.«
    Henry fragte nicht nach den Geschäften, weil er wusste, dass sie schlecht gingen. Obradins himmelblauer Fischkutter, die »Drina«, war vierzig Jahre alt und gab langsam seinen Geist auf. Obradin musste immer öfter tiefgefrorenen Fisch beim Großhändler kaufen, weil sein Diesel nicht mehr lief. Schon mehrfach hatte Henry ihm ein zinsloses Darlehen für einen neuen Kutter angeboten, doch Obradin hatte rigoros abgelehnt. Nicht einmal Henrys Kreditbürgschaft wollte er, Freundschaft sei keine Pfandleihe, sagte er nur. Deshalb war Henry dazu übergegangen, Obradins Ehefrau Helga heimlich Bargeld zuzustecken, damit sie damit die dringendsten Rechnungen begleichen konnte. Ohne Henrys diskrete Unterstützung wäre Obradin längst pleite gewesen. Zweifellos wäre es das Ende ihrer Freundschaft gewesen, wenn Obradin davon erfahren hätte.
    Die Männer steckten sich zwei bosnische Hecken an und sprachen über das Wetter, das Meer und die Literatur. Manchmal erzählte Obradin vom Krieg, von den Massenerschießungen in Bratunac und seiner Zeit im Internierungslager von Trnopolje. Wenn er davon zu sprechen begann, wurden seine Augen dunkel und die Stimme hart, er wechselte beim Sprechen ins Präsens, als geschähe alles gerade jetzt. Wenn Henry ihm so zuhörte, war er nie ganz sicher, ob Obradin gerade Opfer oder Täter war. Nachdem Tschetniks seine Tochter vergewaltigt und anschließend gepfählt hatten, war Obradin jahrelang jedes Wochenende in die heimatlichen Berge um Sarajevo gefahren, um ein paar von ihnen abzuknallen. Henry konnte nicht beschwören, ob er es nicht heimlich immer noch tat.
    Â»Wie weit bist du mit deinem Roman?«
    Â»Fehlt nicht mehr viel. Zwanzig Seiten vielleicht.«
    Â»Das müssen wir feiern. Ich habe einen Seeteufel für dich.«
    Â»Aber ich bezahle ihn.«
    Â»Wie du willst«, erwiderte Obradin. »Ich hab gelesen, sie wollen Frank Ellis verfilmen.«
    Â»Ja, scheußlich«, entgegnete Henry, »ich bin dagegen.«
    Â»Warum hast du es dann erlaubt? Meine Helga sagt, Literatur kann man nicht verfilmen, ich sage: Man darf sie gar nicht verfilmen. Film, weißt du, was Film bedeutet?« Obradin rieb den Finger durch das Fischblut auf dem Hackbrett, zog einen transparenten Faden und hielt ihn Henry unter die Nase.
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