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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen
Autoren: Sascha Arango
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Muster, Martha las die Röntgenbilder seines schlechten Gewissens. Nur in Betty sah Martha eine ernste Bedrohung, nicht ganz zu Unrecht, wie wir bereits wissen. Dabei waren sich die Frauen nur ein einziges Mal auf einer Cocktailparty in Moreanys Garten begegnet.
    Es war ein bemerkenswert milder Abend gewesen, die nachtblühenden Gewächse in Moreanys Garten öffneten die Kelche und lockten die Falter zur Bestäubung. Betty stand am Buffet, das rückenfreie Kleid war bis zu den Lendengrübchen ausgeschnitten, sie stocherte mit der Gabel in einer Erdbeerschale. » Die nicht, Henry«, hatte Martha leise gesagt, als sie den Blick ihres Ehemanns auffing, der sich gleich einer Kompassnadel auf Bettys magnetische Grübchen richtete. Henry wusste sofort, wen Martha meinte, und dass er niemals von Betty lassen würde. Er versprach, sie niemals wiederzusehen. Von da an traf er Betty nur noch an entfernten Orten. Er kaufte sich ein mobiles Telefon mit Prepaid-Karte, bezahlte Motels und Candle-Light-Dinners nur noch in bar. Es blieb dennoch eine Liaison der hastigen Berührungen und fortwährend begleitet von trauriger Ahnung.
    * * *
    Marthas Zimmer war nicht groß und ganz in Cremeweiß gehalten. Sie mochte keine Räume mit hohen Decken, sie erinnerten zu sehr an die Zeit in der Psychiatrie. Ihr kleiner Schreibtisch mit dem drehbaren Hocker davor stand unter der Dachschräge am Fenster, das weiß bezogene Bett zwischen Gaube und der Tür zum Badezimmer. Von der ersten Million für Frank Ellis wollte Henry eigentlich ein französisches Schloss kaufen, aber Martha fand Schlösser zu groß und zu kalt und bestand auf etwas Kleinem. Während sie am nächsten Roman schrieb, entdeckte Henry das alte Herrenhaus an der Küste, fickte die Immobilienmaklerin und begann umgehend mit der Restaurierung des Anwesens.
    Henry sah sich in Marthas Schreibzimmer um, lauschte. Ein leeres Blatt war in die Schreibmaschine gespannt. Kein zerknülltes Papier lag herum, der kleine Papierkorb war leer, keine Notiz, nichts deutete auf Entwürfe oder Korrekturen hin. Der Katarakt der Worte floss aus ihrem Gehirn direkt durch die Maschine auf das Papier, kein Wort rann daneben.
    Â»Hörst du ihn?«
    Â»Ich höre nichts.«
    Â»Vielleicht schläft er.«
    Sie lauschten schweigend. Jetzt war der Moment, dachte er. Jetzt musste er es ihr sagen. Doch seine Gedanken wurden keine Worte.
    Â»Es war ein Storch auf dem Dach.«
    Â»Nachts kommen keine Störche, Henry.«
    Â»Das stimmt. Wo hast du es gehört?«
    Martha deutete an einen Punkt an der Decke. »Da. Über dem Bett.«
    Henry zog sich die Schuhe aus, stieg aufs Bett und legte das Ohr an die Dachschräge. Zwischen Wandverschalung und Dachbalken zog sich ein schmaler Kriechraum über die ganze Länge des Daches. Die Luft dazwischen isolierte vorzüglich. Ein paar Atemzüge verharrte Henry in dieser speziellen Haltung. Dann hörte er etwas. Da nagte es tatsächlich direkt über ihm im Gebälk. Ein Raspeln scharfer Zähne war zu hören. Dann hörte es auf. Das Tier schien ihn bemerkt haben.
    Mit der Miene des besorgten Fachmanns stieg Henry vom Bett.
    Â»Da ist was.«
    Â»Wie groß?«
    Â»Es bewegt sich nicht mehr.«
    Â»Ein Marder?«
    Â»Kann sein.«
    Â»Ist es größer oder kleiner als eine Katze?«
    Â»Kleiner. Mach dir keine Sorgen. Ich fange ihn.«
    Â»Aber du machst ihn nicht tot?«
    Er zog sich die Schuhe an. »Aber nicht doch. Ich geh jetzt Fisch kaufen.«

IV
    D er kleine Ort lag in einer Bucht direkt am Meer. Niedrige Häuser, ein natürlicher Hafen, kleine Geschäfte und überflüssige Blumenbeete, kein Denkmal, aber eine kleine Buchhandlung, wo Henrys Bild gerahmt hing – für die Touristen, die hierherpilgerten, um dem berühmten Autor zu begegnen.
    Obradin Basarić, der serbische Fischhändler des Ortes, legte das Fischmesser beiseite und wusch sich die Hände, als er Henrys Maserati hörte. Da er das Schaufenster mit Fischfotos beklebt hatte, konnte er nur ahnen, was auf der Straße vor seinem Geschäft passierte. Für Obradin war Henry nach dem Tod von Ivo Andrić der größte lebende Schriftsteller überhaupt. Dass Henry diesen unscheinbaren Ort an der Küste erwählt hatte, um sich hier niederzulassen, konnte kein Zufall sein, denn Zufälle passieren nur Atheisten. Wenigstens einmal pro Woche kam Henry zu
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